Der große Jahresrückblick Was von Thilo Sarrazin übrigbleibt

Düsseldorf (RPO). Geht man nach den Verkaufszahlen des Buchhandels, lag unter vielen Tausend Christbäumen in diesem Jahr "Deutschland schafft sich ab" von Thilo Sarrazin. Nach Monaten hektischer Debatte finden viele Bürger erst jetzt Zeit, das Buch zu lesen, über das Deutschland wochenlang diskutierte. Wie viele Beschenkte es tatsächlich schaffen, die 464 Seiten bis zum Ende zu lesen, bleibt abzuwarten. Darauf kommt es aber längst nicht mehr an.

Thilo Sarrazin liebt klare Worte
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Foto: AP

Das Thema Sarrazin beschäftigt viele Deutsche immer noch. "Deutschland schafft sich ab" dominiert die Bestsellerliste in den Wochen vor Weihnachten. "Wir verkaufen im Moment jeden Tag an die 10.000 Exemplare", jubelte der Verlag im Vorweihnachtsgeschäft.

Mehr als 1,3 Millionen Exemplare gingen über die Ladentheke. Auch im Internet suchen die Menschen nach dem ehemaligen Vorstand der Bundesbank. Die Suchmaschine Yahoo meldet, dass sich 45 Prozent aller Suchanfragen im Bereich Innenpolitik in diesem Jahr um das Thema Sarrazin drehten.

In diesen Tagen werden viele Leser enttäuscht sein. Denn "Deutschland schafft sich ab" bereitet wenig Vergnügen. Sarrazin beginnt mit einem langwierigen historischen Rückblick, schreibt über Preußen, sinniert über die Weimarer Republik und bombardiert den Leser mit Statistiken, die vielen Daten liefern aber wenig Informationen.

Als Kernthese präsentiert Sarrazin die Behauptung, die Zukunft unseres Landes werde von einer "kontinuierlichen Zunahme der weniger Stabilen, weniger Intelligenten und weniger Tüchtigen" bei gleichzeitigem Bevölkerungsrückgang gefährdet. Gemeint damit sind Ausländer, die laut Sarrazin oftmals keinerlei Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten. Bei keiner anderen Religion sei der Übergang zu Gewalt und Terrorismus zudem so fließend wie beim Islam.

Sarrazin wiederholt seinen Ernährungsplan für Hartz-IV-Empfänger und kritisiert den Sozialstaat. "Wer keinen Ehrgeiz hat und keine Not fürchtet, der kann kaum motiviert und gar nicht sanktioniert werden." Der Unterschicht Kindergeld zu bezahlen sei ein Problem. Den das führe zu ihrer höheren Fruchtbarkeit — und damit zur Vererbung ihrer geringeren Intelligenz. Seine verworrenen Gen-Thesen hat er inzwischen aus den neueren Auflagen entfernen lassen.

Sarrazins Buch ist eine Provokation, eine Polemik — und über weite Teile kein Sachbuch. Und deshalb ist "Deutschland schafft sich ab" ein Buch, für das man dankbar sein muss. Denn wohl noch nie wurde in Deutschland so offen, hitzig und engagiert über das Thema Integration diskutiert wie in diesem Herbst.

Auf dem Höhepunkt der Debatte erklärte Bundespräsident Christian Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland genauso wie das Christentum und Judentum. Wieder ging ein Aufschrei durch das Land, Wulff geriet unter Druck und wieder wurde in Deutschland diskutiert. Die Kanzlerin erklärte "Multikulti" kurzerhand für gescheitert. SPD und Grünen widersprachen energisch. Jetzt, so hatte man den Eindruck, wird Klartext gesprochen in Deutschland.

Schade nur, dass es 2010 auf politischer Ebene wenig Fortschritte gab. Die Deutsche Islamkonferenz macht vor allem Schlagzeilen mit dem Streit der einzelnen Vereine und Verbände untereinander. Auch die rechtliche Anerkennung muslimischer Verbände als Religionsgemeinschaft bleibt offen. Die Nachricht vom Start islamisch-theologischer Lehrangebote an deutschen Hochschulen ging in der allgemeinen Aufregung beinahe unter.

Und der Autor selbst? Seinen lukrativen Job bei der Bundesbank ist Sarrazin los. Als der Druck zu groß wird, verhandelt Sarrazin mit dem Bundespräsidialamt über seinen Rückzug. Sarrazin geht freiwillig, bei voller Pension. Gegen ein aktuelles Ausschlussverfahren der SPD setzt sich Sarrazin bis heute zur Wehr. Finanziell muss sich Sarrazin auch weiterhin keine Sorgen mache. Dafür sorgen schon die Buchverkäufe. Und Deutschland blickt zurück auf ein Jahr, in dem offen über Integration diskutiert wurde — bisher leider ohne Ergebnis.

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