München München stellt sich der NS-Zeit

München · Ein Rundgang durch das neue NS-Dokumentationszentrum. Der weiße Würfel steht unweit der ehemaligen Parteizentrale der NSDAP.

Wenn die Aufzugtüren auseinanderfahren, fällt der erste Blick auf eines der brutalsten Bilder dieser Ausstellung: ein Leichenfeld im Ersten Weltkrieg, fotografiert während der Schlacht im flämischen Ypern. So wurde im zweiten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts der Grundstein für das gelegt, was das eigentliche Thema des Hauses ist - München im Nationalsozialismus. Das Schock-Foto zu Beginn soll sein, ansonsten verzichtet die Schau auf Horror-Bilder, die es aus der NS-Zeit in Fülle gibt.

Tag eins im NS-Dokumentationszentrum am Münchner Königsplatz: Seit einer Stunde ist geöffnet. Das Haus ist voll, draußen fällt der Regen in feinen Bindfäden. Vergessen sind die Bauverzögerungen und Personalquerelen. Nach kurzer Zeit bilden sich Wasserlachen im Eingangsbereich von den vielen nassen Schuhen, Schirme stapeln sich wild auf dem Boden.

Jahrzehntelang ist über dieses Haus gestritten und gerungen worden. München solle sich endlich seiner braunen Vergangenheit als "Hauptstadt der Bewegung" stellen und diese Zeit nicht mehr ausblenden, so die vielfache Forderung. "Das Haus kommt eine Generation zu spät", sagt Gründungsdirektor Winfried Nerdinger, ein emeritierter Professor für Architekturgeschichte an der Technischen Universität München. Doch nun ist dieser weiße Würfel geöffnet, der sich auch örtlich auf die nationalsozialistische Vergangenheit bezieht. An der Brienner Straße 34, unweit des Königsplatzes, befand sich die Parteizentrale der NSDAP, das "braune Haus".

Im Haus ist die Geschichte von oben nach unten chronologisch gegliedert. Der Rundgang beginnt im vierten Stockwerk mit dem Ersten Weltkrieg. Im Erdgeschoss ist der Besucher wieder in der Gegenwart angekommen. Zu Beginn wird München als Stadt der reaktionären "Gegenrevolution" Anfang der 20er-Jahre gezeigt.

Auf einem Wahlplakat präsentiert sich die Bayerische Volkspartei als Kämpferin gegen den "Bolschewismus", der seine Hand schon über Berlin hält und einen Feuerstab gen München richtet. Rechtsextreme werden von Polizei und Verwaltung gedeckt, Adolf Hitler hält große, primitive Hetzversammlungen zum Thema "Warum sind wir Antisemiten?" ab. Er wird vom Bürgertum und der Wirtschaft gepäppelt.

München entwickelt sich in dieser Zeit zum konservativen bis eher rechtsradikalen Gegenpol zum damaligen Berlin, der Stadt der Moderne. Der Münchner Lion Feuchtwanger schreibt 1930 zornig, dass die frühere "schöne, behagliche Stadt" alles magisch angezogen habe, "was faul und schlecht war". Für Thomas Mann war es "die eigentlich dumme Stadt". Demokratie kann scheitern, lautet das Ausstellungsfazit dieses Abschnitts, Anfang März 1933 hängt eine große Hakenkreuzfahne am Rathaus am Marienplatz.

So geht es weiter und hinab. Auf großen schwarzen Schautafeln sind - sehr gut ausgeleuchtet - die Bilder und Texte zu sehen und zu lesen. Nur Sitzgelegenheiten gibt es in der Schau nicht, was für Eltern mit Kleinkindern schwierig ist. Der Alltag in der NS-Zeit wird gezeigt - "Wegschauen, Zuschauen, Mitmachen" -, zwei Frauen auf dem Fahrrad etwa heben am "Ehrenmal" vor der Feldherrnhalle die Hand zum Hitlergruß, das war Pflicht an diesem Ort. Ein Kellerversteck in Schwabing, in dem Kommunisten unter Lebensgefahr ihre Zeitungen druckten, ist ebenfalls zu sehen.

Im Stockwerk, das sich mit dem Zweiten Weltkrieg befasst, werden Münchner Soldaten und Polizisten bei ihren Kriegsverbrechen gezeigt. Etwa ein Münchner Reservepolizei-Bataillon, das im slowenischen Celje 100 Zivilisten per Massenerschießung ermordet.

Es folgen Zusammenbruch und Befreiung, die weitgehend nicht erfolgte Entnazifizierung, der Blick in die Gegenwart mit einem Neonazi-Aufmarsch vor der Feldherrnhalle und der Lichterkette gegen Fremdenfeindlichkeit mit 400 000 Teilnehmern am Nikolaustag 1992. Und das einstige "Parteiviertel" mit dem von den Nazis verschandelten Königsplatz als Zentrum - bis 1988 wurde er als Parkplatz genutzt, danach begrünt. Die NS-Zeit war nicht sichtbar, München wurde "Weltstadt mit Herz".

Den einstigen Verdacht, die Schau würde die Entstehung der NS-Zeit und die Verdrängung danach ausblenden, haben Nerdinger und sein Team gründlich ausgeräumt.

Neben viel Lob und Anerkennung gibt es hier und da auch Mäkeleien. Ist die Ausstellung mit 1300 Quadratmetern zu klein? Sie ist kompakt, was kein Nachteil sein muss. Ist die Aufbereitung zu konventionell und wie im Geschichtsbuch? Doch wie hätte sie anders sein sollen? Dieser "Lernort" richtet sich ja nicht in erster Linie an jene, die schon alles wissen. Ein Verdienst ist es allemal, diese in Archiven versteckten Quellen zusammenzutragen und zu ordnen.

Dann heraus aus dem weißen Würfel, der sich von den NS-Bauten abhebt. Es regnet immer noch, Spaziergang über den Königsplatz. Jetzt, nach dem Besuch des NS-Dokumentationszentrums, weiß man endlich, was diesem Ort so lange gefehlt hat und warum er nicht harmlos ist. Das ist das große Verdienst.

(RP)
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