Proteste in den USA Wall-Street-Gegner setzen Obama zu

(RP). Die Demonstrationen in den USA unter dem Motto "Occupy Wall Street" treffen einen Nerv. Viele Bürger treibt die Wut um, dass die Banken wieder üppig verdienen, während der amerikanische Traum für sie selbst geplatzt ist. Die enttäuschten Idealisten waren einmal Obamas treueste Anhänger.

Festnahmen bei Anti-Wall-Street-Demonstration
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New York Ein wenig unsicher steht Terry Bishop an der Straßenecke, eingeschüchtert von dem ganzen Trubel. Halb amüsiert, halb irritiert mustert sie die Typen, die neben ihr im kalten Nieselregen frieren. Den jungen Mann, der sich den Mund mit einem Dollarschein zugeklebt hat und auf einem Poster kundtut, dass er nichts sagen kann, weil er sonst seine Arbeit verliert. Den Gitarristen im Jimi-Hendrix-Look. Den falschen George Washington hinter der Maske des hochverehrten Gründers der Republik. Das Mädchen mit dem Slogan "Generation Revolution".

Man merkt, das alles ist nicht Terry Bishops Welt; sie hat noch nie demonstriert. Doch auch sie hält ein Plakat in den Händen, und manchmal versteckt sie sich fast dahinter: "Main St. Needs a Bail-Out!" Der Platz hat nicht ganz gereicht, um das Wort "Street" auszuschreiben, aber egal. Die Hauptstraße Amerikas, will Bishop sagen, braucht ein Rettungspaket, wie es der Staat für die zockenden Banken der Wall Street schnürte.

Hinter der zierlichen Frau mit der modischen Brille lärmt der Zuccotti-Park, ein zugiges Rechteck aus Betonbänken und Blumenrabatten, auf halbem Weg zwischen Ground Zero und Börse gelegen. Irgendwas passiert da, aber wohin es treibt, kann niemand sagen. Was vor gut vier Wochen mit ein paar Schlafsäcken und Zeltbahnen begann, ist zu einer landesweiten Bewegung angewachsen, mit Ablegern von Boston bis Los Angeles, von Chicago bis Washington. Belächelt werden sie schon lange nicht mehr, die Demonstranten, die unter der Losung "Occupy Wall Street" ("Besetzt Wall Street") im Park die Nächte im Freien verbringen.

Demonstranten erfüllen die Auflagen der Polizei

Wohlgemerkt, niemand hat im Ernst versucht, die Börse zu besetzen. Nirgends werden, wie im Sommer in London, Geschäfte geplündert. Der Zuccotti-Park inmitten der Straßenschluchten Manhattans ist viel zu klein, als dass sich dort Hunderttausende wie auf dem Kairoer Tahrir-Platz versammeln könnten. Mit geradezu rührender Vorsicht sind die Protestierenden darauf bedacht, die strengen Auflagen der Polizei zu erfüllen — keine Zelte, keine Toilettenhäuschen, kein Schaden für die Blumenrabatten. In einem Satz, dies ist ein Camp intelligenter Debatten, kein Hauptquartier von Straßenkämpfern.

Und daher umso wirkungsvoller. Die Rebellen treffen einen Nerv. Was sie auf den Punkt bringen, ist das verbreitete Gefühl, dass ein paar Schlüsselakteure des US-Kapitalismus seit Jahren gegen die Regeln des Fairplay verstoßen. Der Frust reicht weit bis in die Reihen der Mittelklasse; seine Adressaten sind vor allem die Banker. Kaum hatte sie der Steuerzahler vor dem Ruin gerettet, machten sie weiter, als sei nichts geschehen. Und während die Geldjongleure längst wieder üppige Boni verdienen, hat der Rest des Landes noch immer an den Folgen der Finanzkrise zu knabbern. Die Realeinkommen der Normalverbraucher sinken, die reichsten Amerikaner dagegen sichern sich ein so großes Stück vom Kuchen wie noch nie seit der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre.

Es war die gleiche Wut auf die Exzesse der Wall Street, die auf der Rechten die Tea Party entstehen ließ. Nur ging sie dort einher mit einem noch größeren Zorn auf den Staat, der angeblich Milliarden verschleudert und wie ein Krake die individuelle Freiheit bedroht. Die Linke zieht den entgegengesetzten Schluss: Sie verlangt einen aktiveren Staat, der die Reichen stärker besteuert und wieder aktiver eingreift ins Wirtschaftsgeschehen.

Parallelen aber sind nicht zu übersehen. Wie die Tea-Party-Aktivisten ihren republikanischen Parteifreunden einheizten, setzen die linken Rebellen den Präsidenten unter Druck. Barack Obama, noch 2008 der bejubelte Hoffnungsträger der Jungen, tanzt aus ihrer Sicht zu artig nach der Pfeife der Wall Street. Nun folgt, zeitverzögert, die Retourkutsche jener Idealisten, die einmal Obamas treueste Anhänger waren.

Der "American Dream", jene Verheißung, dass jeder, der sich anstrengt, irgendwann die Früchte harter Arbeit erntet, er ist für viele geplatzt. Im Augenblick steht ein dickes Fragezeichen hinter diesem Prinzip. Für Terry Bishop zum Beispiel ging es steil bergab nach dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers. 16 Jahre hat sie fürs Budgetbüro der Regierung gerechnet, wurde entlassen, jetzt putzt sie in fremden Wohnungen. Sie würde gern einen Neustart als Sekretärin versuchen. Bei einer Jobbörse kamen auf eine Stelle 200 Bewerber, da war sie chancenlos mit Ende Vierzig. "Ich bin froh, dass jemand mitten im Finanzbezirk Flagge zeigt", sagt sie. "Endlich kannst du mal deinen Frust rauslassen."

(RP)
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