Kolumne: Mit Verlaub! Pressefreiheit - hohes, aber auch missbrauchtes Gut

1958 hat das Bundesverfassungsgericht die Wirkung von Grundrechten wie etwa jenem in Artikel 5 auf die gesamte Rechtsordnung ausgedehnt. Das war bahnbrechend.

In den vergangenen Tagen war wegen der Ermittlungen gegen Journalisten Artikel 5 unserer Verfassung wieder einmal in aller Munde. Das ist gut so, denn das Grundrecht auf Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit ist nach einem bahnbrechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts konstitutiv für die Demokratie. Seine Meinung in Wort und Schrift mitteilen zu können, ohne staatliche Aufpasser oder Korrektoren erdulden zu müssen, ist unter den Grundrechten, wenn es überhaupt eine Rangfolge gibt, eines der vornehmsten. Im Grunde stellt es einen Ausdruck von Menschenwürde dar, die zu achten und zu schützen nach Artikel 1 des Grundgesetzes zum Pflichtenkatalog aller staatlichen Gewalt zählt.

Im berühmten Lüth-Urteil von 1958 hat das Recht sprechende und Grundrechte fortentwickelnde Bundesverfassungsgericht einen demokratischen Stützpfeiler der besonderen Art eingerammt: die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte. Das bedeutete fortan, dass die in unserer Verfassung von 1949 niedergelegten Grundrechte nicht nur auf klassische Art Abwehrrechte des einzelnen Bürgers gegen staatliche Gewalt bedeuten, also das Verhältnis zwischen Individuum und Staatsmacht betreffen; sondern dass die Grundrechte, also zum Beispiel die Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit, darüber hinaus privatrechtliche Beziehungen beeinflussen.

Im erwähnten Lüth-Urteil ging es darum, ob ein Privatmann zum Boykott eines Kinofilms aufrufen durfte, dessen Regisseur ein übler Nazi-Propagandist war. Das höchste deutsche Gericht als Hüter unserer Verfassung gab unter Verweis auf die Drittwirkung der Grundrechte dem Verfassungsbeschwerdeführer in dessen Auseinandersetzung mit der Filmproduktionsfirma, die den Boykottaufruf als rechtswidrige Schädigung betrachtet hatte, recht. Kerngedanke: Das grundgesetzliche Wertesystem, hier des Artikels 5, strahle in alle Rechtsbereiche aus.

Damit niemand denkt, es hisse einmal mehr ein Vertreter der zu Unrecht als vierte Gewalt bezeichneten Presse (mit Verlaub, so wichtig sind wir nicht!) selbstbezogen seine Zunftflagge: Nein, Artikel 5 stellt keinen Freibrief aus, etwa für Persönlichkeitsrechts-Verletzungen durch Medien oder sonst Rechtswidriges. Es ist schon so, wie Altkanzler Helmut Schmidt es einmal ausdrückte: Unter Journalisten findet sich wie unter Politikern alles, vom Staatsmann bis zum Gauner. Es gibt in unserer Branche - um an zwei große Vorbildliche zu erinnern - hoch oben diejenigen vom Typ Joachim Fest und Frank Schirrmacher. Und es wuseln im Souterrain journalistische Grabräuber. Auch letztere berufen sich auf die Pressefreiheit. Ich halte das für beschämend.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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