Analyse Leben und sterben lassen

Düsseldorf · Der Deutsche Richterbund lud ein zu einem Thema, das uns Sterbliche bewegt wie kaum ein anderes. Es ging um den eigenen Tod und die juristischen, ethischen, medizinischen Aspekte eines selbstbestimmten Lebensendes.

"Es gibt zwei Dinge in unserem Leben, die wir nicht in der Hand haben - die Geburt und den Tod." Das sagt Lars Mückner, Duisburger Richter und Dezernent für Betreuungssachen. Wieso den Tod? Zumindest ihn haben wir doch sehr wohl in der Hand, indem wir uns das Recht nehmen (können), unser Lebensende bewusst und gewollt, also vorsätzlich, herbeizuführen. Selbstbestimmung in letzter Konsequenz. Mückner drückte bei einer Veranstaltung des Deutschen Richterbundes in Düsseldorf auf plastische Weise aus, was uns Sterblichen die allgemeine Handlungsfreiheit des zweiten Artikels des Grundgesetzes auch garantiert: "Niemand muss essen." Das Freiheitsrecht, in der letzten, schon vom Tode angehauchten Lebensphase Nahrung zu verweigern, wird vom Recht geschützt. Was aber ist, wenn wir in dieser Phase nicht mehr bei Sinnen sind, beispielsweise als Komapatienten? Wer nimmt dann unser Freiheitsrecht wahr? Betreuer? Ein Richter wie Lars Mückner? Der Arzt in der Klinik?

Es gibt in diesem weiten Feld die Radikalliberalen. Sie verlangen nicht nur das Recht, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, sondern auch, falls gewünscht, die ärztliche Assistenz beim Sterben. Die Radikalliberalen haben auch nichts dagegen, dass mit der sogenannten Sterbehilfe Geld verdient wird, dass also die Hilfe zur Selbsttötung gewerbsmäßig betrieben werden darf. Der frühere Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, Udo Reiter, formulierte zum Auftakt der Richterbund-Veranstaltungsserie "Justiz im Dialog" denkbar drastisch, beinahe brutal: "Ich möchte nicht als Pflegefall enden, dem oben die Lebensmittel eingeführt werden und dem später unten die Exkremente mit Gummihandschuhen rausgekratzt werden müssen." Bei so einem Satz kann es einem die Sprache verschlagen. Es kann auch passieren, dass viele ähnlich Denkende so reagieren: "Recht hat der Mann, Ja zum Freitod, am besten mit einem wohlschmeckenden Cocktail, dargereicht von ärztlicher Hand" (Reiter).

An der Stelle treten Politiker, Kirchenvertreter, Ethiker, Hospizpflegekräfte, Palliativmediziner und Menschen wie der Chef der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, auf den Plan. So geschehen in Düsseldorf: "Sie, Herr Reiter, haben zwar das Recht zum Suizid, aber nicht das Recht, dafür uns Ärzte in Anspruch zu nehmen." Reiters Behauptung, eine große Mehrheit der Deutschen denke so wie er, setzte Montgomery entgegen, zwar wollten sich tatsächlich viele theoretisch den Ausgang zum Suizid offenhalten; die Praxis sehe in den Niederlanden hingegen so aus: 70 Prozent bekennen sich zur aktiven Euthanasie, aber nur zwei Prozent töten sich wirklich selbst. Es ist wohl vielfach so: Es gibt ein grundsätzliches Ja zum selbstbestimmten Lebens-Exit, aber wann und vor allem wie das geschehen soll - das ist eine zweite, die ganz große, oft nie vollzogene Entscheidung.

Häufig ist - und war es auch beim Justiz-Dialog - von Rechtsunsicherheiten die Rede, wenn es um Sterbehilfe als aktives Tun (Geräte abschalten), indirektes Tun (Gabe schmerzstillender, lebensverkürzend wirkender Medikamente), als passives Geschehenlassen des unausweichlich bald eintretenden Todes geht. Montgomery sprach von der "Angst der Ärzte" vor Juristen, sprich: Staatsanwälten. Zur Rechtslage: Die Beihilfe zur Selbsttötung ist straflos, weil es an einer strafbaren Haupttat fehlt. Tötung auf Verlangen jedoch ist ein Delikt, ebenso Tötung durch Unterlassen, wenn zum Beispiel der Arzt dem Patienten gegenüber eine juristische Garantenstellung einnimmt.

Rechtsanwalt und Medizinrechtler Wolfgang Putz wurde erstinstanzlich wegen Anstiftung zum Totschlag verurteilt, weil er den Kindern ihrer seit Jahren im Wachkoma liegenden Mutter dazu geraten hatte ("Schneiden Sie den Schlauch durch"), die nachweislich von der Mutter nicht gewünschte Zwangsernährung im Pflegeheim zu beenden. Hatte sich Anwalt Putz zum "Herrn über Leben und Tod" aufgeschwungen, wie die Staatsanwaltschaft meinte? Oder hat er die Fortsetzung einer mutmaßlichen Straftat (hier: die Körperverletzung durch Zwangsernährung) verhindern helfen wollen? Klar ist: Das Durchtrennen des Schlauchs zur Nahrungszufuhr war aktives Tun wie das Abschalten eines Beatmungsgeräts. Klar und vom Gericht festgestellt war auch, dass sich die Sterbenskranke zu Zeiten vollen Bewusstseins künstlich lebensverlängernde Maßnahmen verbeten hatte. Der Bundesgerichtshof sprach Anwalt Putz im Juni 2010 frei - in einer bahnbrechenden Entscheidung, denn das Urteil bedeutet laut Putz, dass auch aktives Tun bei der Sterbehilfe, wenn es dem realen oder mutmaßlichen Willen des Todgeweihten entspricht, nicht strafbar ist.

Seit 2009 regelt der Paragraf 1901a des Bürgerlichen Gesetzbuches die Patientenverfügung. Was nicht zu regeln ist, ist ein befürchteter Dammbruch. Oder das, was ein Palliativmediziner den "Druck auf Schwerstkranke" nannte, doch bitte sehr zum Wohle der Allgemeinheit ihr Lebensende zu beschleunigen. Montgomery berichtete über entsprechende Meldungen aus den Niederlanden. Weitgehende Einigkeit besteht in Deutschland darüber, dass niemand straflos mit Sterbehilfe Geld verdienen darf. Das Fazit von Richterbund-Vize Jens Gnisa überzeugt: Dass jeder jeden straflos töten dürfe, der das ausdrücklich erbitte - das wünsche sich wohl niemand.

Ein Kirchenwort zum Schluss, gesprochen in Wuppertal von Manfred Rekowski, dem Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland: Ein Christ sei davon überzeugt, dass jeder Mensch eine Würde habe, die auch in Krankheit und im Sterben nicht verloren gehe. Sterben in Würde beginne nicht erst, wenn ein Mensch selbst die Umstände seines Sterbens in die Hand nehme.

(RP)
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