Washington Mit dem Sturmgewehr in die Pizzeria

Washington · Es begann mit dem Gerücht, wonach eine Pizzeria in Washington einem Kindersex-Ring als Kerker diente. Es endete mit der Attacke eines schwer bewaffneten Südstaatlers, der glaubte, gequälte Kinder aus ihrer Not befreien zu müssen.

"Facts matter!"("Fakten sind von Bedeutung!"), hat jemand auf weißes Papier geschrieben und das Blatt unter eine Bambushecke an einen der Pflanzkübel vor der Pizzeria Comet Ping Pong geheftet - neben Zetteln, auf denen steht, dass man nun erst recht im Comet Pizza esse, allein schon, um Solidarität zu bekunden.

Es ist eine Art provisorischer Schrein, der da entstanden ist in diesem Wohnviertel an der Connecticut Avenue, an einer lärmenden Straßenkreuzung im Nordwesten Washingtons. "Fakten sind von Bedeutung": Der Spruch hat einen Grund, denn es waren "Fake News", also erfundene Nachrichten, die das Comet zum Schauplatz eines Dramas werden ließen. Ein modernes, schlicht eingerichtetes Restaurant, in dessen Hinterzimmer man Tischtennis spielen kann.

Zugetragen hat es sich am Sonntag, als ein junger Südstaatler, bewaffnet mit einem Sturmgewehr des Typs AR-15, in die Pizzeria stürmte. Während die wenigen Gäste, die an jenem Nachmittag an den langgestreckten Tischen saßen, nach draußen flohen, machte sich der Eindringling auf die Suche nach einem Verlies. So steht es im Polizeiprotokoll, in dem Edgar Madison Welch auch den Grund für seine Attacke nannte.

Im Internet hatte er gelesen, das Comet diene einem Pädophilenring als getarnte Zentrale, in deren Keller man Kinder als Sexsklaven missbrauche. Worauf Welch, 28 Jahre alt, zweifacher Vater, einst Feuerwehrmann, später erfolgloser Schauspieler, beschloss, die sechs Stunden im Auto von Salisbury, einer Kleinstadt in North Carolina, nach Washington zu fahren, um die gequälten Kinder aus ihrer Not zu befreien. Auf seinem Streifzug durchs Comet schoss er auf das Schloss einer Tür, hinter der er den Zugang zu einem geheimen Gewölbe vermutete. Eine zweite Kugel traf einen Computer. Menschen kamen zum Glück nicht zu Schaden.

Bizarr ist allein schon die Vorgeschichte. Es begann damit, dass James Alefantis, der Besitzer der Pizzeria, mit John Podesta korrespondierte, dem Wahlkampfmanager Hillary Clintons, der gern ins Comet kam. Nachdem Hacker Podestas E-Mails erbeutet hatten, machte die Enthüllungsplattform Wikileaks alles publik, was wiederum Alefantis zum Verhängnis wurde. Zu den Verschwörungstheorien der amerikanischen Wahlschlacht gehörte die irre Geschichte, nach der Clinton die Spinne im Netz eines Kindersex-Rings sein soll. Und Podesta ihr Handlanger. Und Alefantis der Bösewicht, der den Kerker bewacht. Im Keller des Comet.

Ende Oktober wurde das Gerücht mit einem Tweet in die Welt gesetzt. Wie ein Lauffeuer verbreitete es sich über soziale Medien, bis am Tag vor dem Präsidentschaftsvotum erstmals vom "Pizzagate" die Rede war. Und auch als Welch sich von herbeigeeilten Polizisten abführen ließ, ohne ein Verlies gefunden zu haben, war die Sache noch nicht erledigt. Ein gewisser Michael Flynn Jr. schrieb noch Stunden nach der Festnahme bei Twitter: "Bis sich #Pizzagate als falsch herausstellt, bleibt es eine Geschichte". Nun ist Flynn Jr. der Sohn eines Ex-Generals, den Donald Trump zu seinem Sicherheitsberater befördert hat. Zudem saß er im Übergangsteam des nächsten US-Präsidenten, ehe er am Dienstag seinen Stuhl räumen musste. Nach einem Bericht der "New York Times" rechnete sich Flynn Jr. Chancen aus, in den Stab des Weißen Hauses aufzurücken.

Dann wäre da noch Abdel Hamad, 1980 aus Ägypten eingewandert, der Besitzer einer kleinen Pizzabäckerei gleich neben dem Comet. Die macht, was auf der Hand liegt, mit einem Stück Pizza Reklame. Nur dass Verschwörungstheoretiker das Logo zu einem Symbol der Kinderpornografie umdeuteten, worauf Hamad es von seiner Website entfernte. Das wiederum sahen die Verschwörungstheoretiker als Schuldeingeständnis. "Wieso hast du deine Website geändert?", sagt Hamad, habe ein anonymer Anrufer durchs Telefon geschrien. "Wir jagen dir eine Kugel in den Kopf", habe ein anderer gedroht.

Oder Sabrina Ousmaal, die Betreiberin eines Bistros namens Terasol, schräg gegenüber vom Comet. Hillary Clinton hat vor Jahren einmal im Terasol gegessen, Ousmaal fühlte sich so geehrt, dass sie sich mit der Politikerin ablichten ließ und das Foto ins Internet stellte. Prompt fand auch sie sich im Visier der "Pizzagate"-Spinner wieder.

Die übrigens wollen nicht glauben, dass Welch im Comet kein Kindergefängnis fand. Nach der neuesten Version ist er nur eine Marionette des Clinton-Clans, losgeschickt, um die Wahrheit zu vertuschen.

(RP)
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