Operation am "offenen Herzen" Älteste U-Bahn der Welt macht sich fit für Olympia

London · London hat die älteste U-Bahn der Welt, die Außergewöhnliches leistet. Die fast 150 Jahre alte Tube transportierte 2011 rund 1,1 Milliarde Menschen, ihre Züge legten zusammen eine Strecke zurück, die 90 Mondreisen entsprach. In diesem Sommer kommt auf sie eine besonders schwierige Herausforderung zu.

Eine verbogene Schieberstange in West Ruislip, eine blockierte Weiche in North Acton und in Plaistow ließ ein Reisender einen Schlüsselbund auf die Gleise fallen. Das war‘s. Ein selten ruhiger Tag in der Londoner Tube, weswegen die in weiße Hemden und schwarze Krawatten gekleideten Männer im "Netzwerkkontrollraum" (NOC) am St. James's Park noch Zeit haben, um die BBC-Nachrichten zu verfolgen.

Die restlichen Bildschirme des NOC zeigen schematisch eine verzweigte Röhre, in der grüne Würmer kriechen — 527 Züge, die gerade verschiedene Stationen im Untergrund ansteuern. Die älteste U-Bahn der Welt, deren berühmte Warnung "Mind the gap" (Vorsicht, Lücke) in Filme, Popsongs und Romane Einzug fand, darf bis auf die fünfstündige Nachtpause niemals stehen bleiben, weil der Hauptstadt mit 7,7 Millionen Einwohnern sonst ein Verkehrskollaps droht.

Als mit der Metropolitan Line 1863 die weltweit erste unterirdische Eisenbahn eröffnete, war sie nach kurzer Zeit fähig, 26.000 Passagiere am Tag zu befördern. Knapp 150 Jahre später wird die Tube täglich im Schnitt von 3,9 Millionen Menschen benutzt. Aufs Jahr gerechnet macht das ein Sechstel der Weltbevölkerung. Es ist eine Routine-Mammutaufgabe für die rund 19.000 Mitarbeiter der Londoner U-Bahn, die verborgene Tunnelstadt mit 270 Stationen, 426 Rolltreppen und einem Streckennetz von 402 Kilometern in ständiger Bewegung zu halten. In wenigen Monaten werden sie jedoch ein wahres Wunder vollbringen müssen.

Denn ab Mitte Juli wird an der Themse eine vierwöchige Invasion von 65 000 Olympia-Athleten, Funktionären, Trainern und Journalisten erwartet. Zusätzlich wird die "größte Show der Erde in der großartigsten Stadt der Welt" (Bürgermeister Boris Johnson) mindestens 500.000 ausländische Zuschauer anlocken, die das tägliche Verkehrsaufkommen in London um drei Millionen Fahrten steigern sollen. Es ist derzeit eine der größten Sorgen: Wird die altehrwürdige Tube dem Ansturm der Besucher standhalten? Dies wird von Menschen wie Andy Cooper abhängen, der täglich auf der Jubilee Line fährt.

Der Lichtkegel der Scheinwerfer lässt in der Ferne die Gleise aufblitzen. Hinweisschilder und blaue Warnlampen rauschen vorbei. Im engen Führerhaus des Zuges mit knapp 1000 Passagieren starrt ein grauhaariger Brillenträger in einer rotblauen Dienstjacke abwechselnd in die Dunkelheit des Tunnels und auf drei Dutzend Monitore und Schaltknöpfe.

Gemeinsam mit seinen 3400 Kollegen ist Andy dafür verantwortlich, dass die Londoner U-Bahn-Züge jährlich eine Distanz bewältigen, die 90 Mondreisen entspricht. Er muss dafür nicht einmal viel tun: Der Computer an Bord achtet auf die Distanz zu anderen Zügen und entscheidet über das Beschleunigen und Bremsen, während dem Führer hauptsächlich die Rolle des Beobachters und Ansagers bei Verzögerungen zukommt.

"Ganz schön langweilig", gesteht der 56-Jährige, der vor seiner Anstellung bei der U-Bahn 1999 Businesssoftware verkauft hat. In seiner 8,5-stündigen Schicht schafft es Andy, die 36 Kilometer lange Jubilee Line acht Mal komplett zurückzulegen. Theoretisch könnte er bei einem Not-Stopp zwischen zwei Stationen den Zug reparieren, doch die zuverlässige Technik ist relativ immun gegen Ausfälle.

"Ich freue mich auf Olympia", sagt der Londoner. "Wir sollen vor den Spielen einen Bonus von 500 Pfund bekommen". Allerdings ist Andy skeptisch über das Versprechen der Organisatoren, einen reibungslosen Olympiaverkehr zu sichern: "Viele Besucher, die sich hier nicht auskennen, werden verloren gehen, unnötige Reisen machen und das System deutlich verlangsamen".

Die Tube investiert seit 2011 jährlich 1,4 Milliarden Pfund, um solche Bedenken zu entkräften. "Wir haben mehrere Stationen behindertenfreundlich gemacht, auf drei Linien klimatisierte Züge eingeführt und durch die Installation eines neuen Computersystems die stündliche Zugfrequenz von 24 auf 30 erhöht", erzählt Gareth Powell, der für die "strategische Planung" zuständig ist. Powell hebt den Ausbau des Verkehrsknotens Stratford hervor, der eine öde Industrielandschaft in ein strahlendes Olympia-Portal verwandelt und Milliarden Pfund an privaten Investitionen angezogen habe. "Die Tube prägt die Londoner Entwicklung, und ich bin sehr stolz darauf", sagt der Experte.

Er gibt jedoch zu, dass die Modernisierung des viktorianischen U-Bahn-Netzes bei laufendem Betrieb eine extrem schwierige Aufgabe sei: "Es ist, als würde man eine Operation am offenen Herzen vornehmen, während man gerade einen Marathon läuft".
Die Risiken für das logistische Abenteuer Olympia bleiben hoch. Manche Buchmacher bieten derzeit Wetten an, wonach ein Streik der U-Bahn-Zugführer während der Spiele die Millionenstadt ins Chaos stürzt. Die zuständige Gewerkschaft RMT lehnte im Februar ein Kompromissangebot der Stadtverwaltung ab und droht mit Arbeitsniederlegungen, wenn der geforderte höhere Olympia-Bonus für ihre Mitglieder ausbleibt.

Die anderen großen Sorgen der Tube sind noch immer relativ häufige Ausfälle der betagten Signalanlagen, der Platzmangel auf den engen Bahnsteigen und eine mögliche Wiederholung der Anschläge vom 7. Juli 2005 mit 52 Todesopfern.
Die Polizei will während der Spiele die U-Bahn-Ingenieure mit Blaulicht durch die verstopften Londoner Straßen befördern, damit diese mögliche Zug- und Gleisdefekte schnell beheben können.

Um das zweite Problem zu mindern, bitten die Veranstalter alle Einwohner, zu Stoßzeiten einen Bummel zu machen oder in den Pub zu gehen, ehe sie in die Tube hinuntersteigen. Was den Terror angeht, so hat die U-Bahn ein neues Radiosystem für Rettungsdienste installiert und bei einem Evakuierungstest mit 2500 Beteiligten den Ernstfall geübt.

Die Männer in der U-Bahn-Schaltzentrale NOC am St. James's Park erinnern sich gut an jenen Juli-Tag, als sich vier junge Islamisten in drei Zügen und einem Bus in die Luft sprengten. Das Unfassbare war geschehen, doch dank der Professionalität der Tube-Manager setzte damals das Londoner Herz nur kurzzeitig aus. "Wir hatten die U-Bahn evakuiert, aber am nächsten Morgen fuhr sie wieder", sagt stolz der NOC-Chef Richard Jones. "Wir mögen es, schwere Herausforderungen zu bewältigen. Ich bin sicher: Olympia wird ein Erfolg werden".

(chk/csi/chk/csr)
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