Kreuzbandriss im ersten Training Rüdigers Märchen ist vorbei, bevor es angefangen hat

Evian-Les-Bains · Normalerweise würde jetzt ungefähr diese Geschichte erzählt werden: Es war einmal ein Fußballspieler, der lernte sein Handwerk mit den großen Brüdern in einem Käfig im Berliner Ortsteil Wedding. Er wurde ein Weltstar. Jerome Boateng ist sein Name. Eines Tages bekam er einen Schüler zur Seite gestellt. Der hatte ebenfalls auf harten Berliner Bolzplätzen das Fußballspielen gelernt. Und er sollte bei der Europameisterschaft in Frankreich so richtig ins Rampenlicht treten. Antonio Rüdiger ist sein Name.

EM 2016: Kreuzbandriss! Rüdiger bricht Training ab
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Kreuzbandriss! Rüdiger bricht Training ab

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Foto: dpa, hpl

Aber diese Geschichte kann nun nicht mehr erzählt werden. Denn Rüdigers EM ist zu Ende, bevor sie begonnen hat. Im öffentlichen Training der Nationalmannschaft in Evian-les-Bains zog er sich bei einem unglücklichen Ausfallschritt eine der schlimmsten Sportverletzungen zu. "Er erlitt einen Riss des vorderen Kreuzbandes im rechten Knie", teilte der Deutsche Fußball-Bund mit.

Es ist ein Rückschlag für Joachim Löws Team, weil Rüdiger eine feste Größe in der Innenverteidigung ist - zumindest so lange, wie der Neu-Münchner Mats Hummels seinen Muskelfaserriss auskuriert. Viel schlimmer als Löw und "die Mannschaft" trifft die Verletzung den 23 Jahre alten Verteidiger.

Denn er schickte sich gerade an, dem gerecht zu werden, was Löw in ihm sieht. Rüdiger ähnelt von der Figur und vom Laufstil dem mittlerweile großen Boateng. Und der Bundestrainer kann sich noch gut erinnern, dass sein bester Innenverteidiger viele Jahre auf der Suche nach sich selbst war. Auf dem Verschiebebahnhof der Defensivkräfte war Boateng mal rechts, mal links, mal innen, mal außen. Und die Selbstsicherheit, sein fehlerfreies Auftreten, das hochintelligente Passspiel wurden erst in späteren Jahren zu seinen Markenzeichen.

Rüdiger war auf dem Weg, ebenfalls eine solche Entwicklung zu gehen. Löw hielt an ihm fest, obwohl der Nachwuchsmann im jugendlichen Übereifer so manches kleine Fußballkunstwerk wieder einriss, das er gerade durch Zweikampfgeschick und Stellungsspiel aufgebaut hatte. Und in jüngerer Vergangenheit wurden solche Fehler tatsächlich seltener, bei denen Fans und Trainer sich verzweifelt das Resthaar raufen. Der 23-Jährige hatte erkennbar einen Lernprozess hinter sich gebracht. Sein wichtigster Lehrmeister ist der internationale Fußball. Er spielt nun beim AS Rom. Und weil italienischen Fußballern taktisches Verständnis und defensives Denken in die DNA gelegt ist, lernt Rüdiger in der Hauptstadt jeden Tag dazu.

Deshalb stand er bei der EM vor seinem Durchbruch in der DFB-Auswahl. Und deshalb ist er nach seiner Verletzung, die ihm sicher ein halbes Jahr Pause abverlangen wird, erst einmal völlig niedergeschlagen. Da wird aus dem vermeintlich schon so abgeklärten Kerl, der gern an seine harten Kindheitstage im Berliner Multikulti-Stadtteil Neukölln erinnert, ein ziemlich verzweifelter Junge. Und die Kollegen zeigen angemessenes Mitleid. Thomas Müller, der die Verletzung aus nächster Nähe nach einem Zweikampf mit Rüdiger erlebte, twitterte: "Was für ein Desaster. Werde schnell wieder fit." Boateng bediente die sozialen Netzwerke in stilechter Rapper-Manier. "Get well, Bro'" (Werde gesund, Bruder), schrieb er.

Die Geschichte vom nächsten Berliner Straßenfußballer, der den ganz großen Durchbruch in der deutschen Nationalmannschaft schafft, wird jedenfalls später erzählt werden müssen.

(pet)
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