Streik bei Lufthansa ist kein Einzelfall Kleine Gewerkschaft, große Macht

Berlin/Düsseldorf · Lufthansa-Piloten, Lokführer und Klinikärzte haben hohes Erpressungspotenzial: Rufen ihre Gewerkschaften zu Streiks auf, leiden Zehntausende. Für die Arbeitgeber wird es stets teuer. Umso lauter rufen sie nach politischer Hilfe.

Pilotenstreik 2014: Stille am Flughafen Düsseldorf
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Pilotenstreik 2014: Stille am Flughafen Düsseldorf

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Foto: ap

Preisfrage: Was verdient ein Flugkapitän der Lufthansa, der kein blutiger Anfänger mehr ist?

Antwort: Inklusive aller Zulagen und Spesen erhält er mehr als 255.000 Euro brutto im Jahr. Und was passiert, wenn der Pilot mit Mitte 50 in den Ruhestand gehen möchte? Antwort: Wenn er das 55. Lebensjahr erreicht, kann er frühzeitig in Rente gehen und erhält in den zehn Jahren Übergangszeit bis zum gesetzlichen Rentenalter von der Lufthansa bislang 124 .000 Euro im Jahr. Wenn er dann 65 wird, bekommt er zusätzlich zur gesetzlichen Altersrente von 23.000 Euro eine Betriebsrente von 54.000 Euro.

Die Piloten sitzen an einer nicht nur für das Unternehmen, sondern auch für die gesamte Volkswirtschaft neuralgischen Stelle: Ohne sie kann die Lufthansa ihren Geschäftsbetrieb aufgeben, und der deutsche Flugverkehr bricht zur Hälfte zusammen. Von heute an, null Uhr, stehen bei der Lufthansa alle Flugzeugräder still, weil die kleine Spartengewerkschaft Cockpit die Piloten zum Streik aufgerufen hat. Sie fordern nicht nur zehn Prozent mehr Gehalt. Die Fluggesellschaft soll auch von Plänen absehen, ihre großzügige Übergangsregelung für frühpensionierte Piloten zu verschlechtern.

Wie die 4500 Lufthansa-Piloten haben auch die 21.500 Lokführer bei der Deutschen Bahn oder die 50.000 Klinikärzte in den städtischen Krankenhäusern ein enorm hohes Erpressungspotenzial, wenn sie streiken oder ihren Ausstand auch nur androhen. Kein Wunder also, dass Chefärzte mit bis zu 280.000 Euro brutto im Jahr locker noch mehr verdienen können als die Flugkapitäne. Oberärzte in den Kliniken kommen immerhin auf rund 115.000 Euro im Durchschnitt. Lokführer bringen es auf weniger, sie verdienen im Schnitt etwa 50.000 Euro brutto im Jahr, aber sie sind auch keine Akademiker. Immerhin konnten sie nach ihrer letzten Streikandrohung im Sommer 2012 ein sattes Gehaltsplus von mehr als sechs Prozent durchsetzen.

Piloten, Fluglotsen, Bodenpersonal — alle diese Berufsgruppen sind für den Flugverkehr von existenzieller Bedeutung. Sie alle sind in Spartengewerkschaften organisiert, und jede von ihnen kann den Flugverkehr lahmlegen, wenn sie in den Ausstand geht. Der oberste Flugverkehrs-Lobbyist Klaus-Peter Siegloch spricht von einer "Geiselhaft", in die die Airlines durch die Spartengewerkschaften gerieten. Auf deutschen Flughäfen herrsche "eine Situation wie in Großbritannien vor Margaret Thatcher", wettert Lufthansa-Boss Christoph Franz.

Damit ist auch klar, was sich Arbeitgeber wie die Lufthansa von der Politik erhoffen: Sie soll wie einst die Eiserne Lady auf der britischen Insel die große Macht der kleinen Gewerkschaften brechen — indem sie die 2010 vom Bundesarbeitsgericht gekippte Tarifeinheit wiederherstellt.

Tarifeinheit bedeutete bis dahin, dass in einem Arbeitsverhältnis oder einem Betrieb immer nur ein Tarifvertrag galt — und das war meistens der Tarifvertrag, der von den größeren Gewerkschaften abgeschlossen wurde. Mit dem Urteil wurde dieser Grundsatz jedoch aufgegeben — und in einem Betrieb können seitdem für verschiedene Arbeitsverhältnisse derselben Art auch unterschiedliche Tarifverträge gelten. Für die Klinikärzte können also der Marburger Bund ebenso wie die große Dienstleistungsgewerkschaft Verdi Tarifverträge abschließen. Die Macht der Spartengewerkschaften wuchs so ungemein.

Union und SPD wollen das nun ändern. Im Koalitionsvertrag haben sie festgelegt, "den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesetzlich" festzuschreiben. Das heißt, in einem Unternehmen soll nach dem Willen der Koalition nur noch ein Tarifvertrag gelten: derjenige der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern. Doch das ist verfassungsrechtlich heikel, denn eine solche Regelung kollidiert mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit, auf das Spartengewerkschaften wie Cockpit pochen. Sie wollen dieses Grundrecht notfalls einklagen. Verdi-Chef Frank Bsirske hat sich auf ihre Seite gestellt: Er will nicht, dass über die Tarifeinheit das Streikrecht ausgehöhlt wird.

Da die Umsetzung des Koalitionsvertrags entsprechend schwierig ist, hat Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) die Tarifeinheit aus ihrem Gesetzentwurf zum "Tarifpaket", der heute ins Kabinett kommt und die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns regelt, wieder herausnehmen müssen. "Eine Lösung muss beiden Seiten — großen wie kleinen Arbeitnehmervertretungen, der Arbeitgeber- wie der Arbeitnehmerseite — gerecht werden. Und sie muss verfassungsfest sein", sagte sie gestern ungewohnt kleinlaut.

"Tarifeinheit nach dem Mehrheitsprinzip bedeutet, dass in einem Betrieb nur der Tarifvertrag gilt, dem die Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Mitarbeiter angehören. Dadurch wird der Minderheitsvertrag verdrängt", erläuterte Ulrich Preis, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Köln. Gesonderte Tarifverträge für Lokführer, Ärzte und Piloten würden wirkungslos, stellen diese Berufsgruppen in ihrem Betrieb doch nicht das Gros der Belegschaft. Vor allem die Arbeitgeber drängen daher auf das Gesetzesvorhaben.

2010 startete die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) eine Initiative gegen das Urteil, in der sie eine gesetzliche Tarifeinheit forderte. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) beteiligte sich an der Initiative. Doch die Allianz währte nicht lange. Als erstes distanzierte sich Verdi von den Plänen, am Ende der DGB. Grund ist der Plan der Arbeitgeberverbände, über die gesetzliche Tarifeinheit in das Arbeitskampfrecht einzugreifen. Gilt in einem Betrieb nur ein Tarifvertrag, unterliegen die anderen Gewerkschaften der Friedenspflicht (Streikverbot) des Mehrheitsvertrags. "Das gibt Unternehmen wie Arbeitnehmern Planungs- und Rechtssicherheit", sagt Roland Wolf, Leiter der BDA-Rechtsabteilung. Die Gewerkschaften kritisieren allerdings, dass der Gesetzgeber durch diese Praxis per Hintertür in das Streikrecht eingreifen würde — und hier reagieren alle Gewerkschaften äußerst allergisch.

Eine Arbeitsgruppe verschiedener Ministerien brütet nun über einer rechtssicheren Lösung. Am Ende könnten die vermeintlich Schwächeren in diesem Spiel doch das stärkere Blatt auf der Hand haben: das Grundgesetz.

(mar)
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