Prozess gegen Krebsmittelpanscher Herr Fischer kämpft und kämpft

Bottrop · Die Frau des Dorsteners Hans-Jürgen Fischer ist eines der Opfer des Bottroper Apothekers, der Krebsmedikamente gepanscht haben soll. Am Montag beginnt gegen ihn der Prozess in Essen.

Angelika und Hans-Jürgen Fischer.

Angelika und Hans-Jürgen Fischer.

Foto: Andreas Endermann

Weihnachten werde er nicht mehr erleben, haben die Ärzte Hans-Jürgen Fischer aus Dorsten prognostiziert, und zwar Weihnachten 2014, aber Fischer kann nicht gehen. Denn seine letzte Schlacht ist noch nicht geschlagen: Der Kampf gegen einen mutmaßlichen Pansch-Apotheker, der seiner ebenfalls krebskranken Frau Lebenszeit genommen haben soll.

Fischer wirkt nicht bloß jung für seine 65 Jahre, nicht bloß aufgeräumt und kraftvoll. Er wirkt vital. Doch dieser Eindruck täuscht. Ein Weichteilkrebs hat Fischer befallen, und der zerstört nicht nur Herz und Nieren, sondern wuchert wild, bildet Metastasen überall. "Lunge, Leber, Bauchspeicheldrüse, Milz, Wirbelsäule, Rippen, Dickdarm...", zählt Fischer auf. Ungezählte Medikamente haben sie inzwischen an ihm getestet, in allen Kombinationen, nichts wirkt mehr. Im Schnitt verbringt er trotzdem drei Tage pro Woche an der Essener Uniklinik. Nicht zuletzt als Studienobjekt für die Ärzte, die sich fragen, was ihn überhaupt noch aufrecht hält. Die Antwort ist: sein Willen. Er hangelt sich von Kampf zu Kampf.

Sein aktueller und definitiv letzter Kampf ist beispiellos: Der Bottroper Apotheker Peter S. steht unter dringendem Verdacht, Krebsmedikamente systematisch unterdosiert zu haben, aus Geldgier. Am Montag beginnt in Essen der Prozess gegen den Mann, der sich als Wohltäter feiern ließ, vor allem, man fasst es nicht, als Großspender für das örtliche Hospiz. Den Schaden für die Krankenkassen beziffern die Staatsanwälte auf 56 Millionen Euro, 4000 Menschen in sechs Bundesländern könnten betroffen sein. Darunter auch Hans-Jürgen Fischers Frau Angelika (63), die ebenfalls Krebs hat, im Knochenmark, schon seit 2006.

"Die von diesem Apotheker gemischten Chemotherapien habe ich erstaunlich gut vertragen", sagt sie, und heute sei ihr auch klar, weshalb. "Es war viel zu wenig Wirkstoff darin, vielleicht auch gar keiner." Und ohne Wirkung auch keine Nebenwirkung. Eine Stammzelltransplantation schlug bei Angelika Fischer wohl deshalb fehl. Doch seit ihre Medizin von einem anderen Apotheker angemischt wird, hält sie den Krebs wieder in Schach, bis auf weiteres.

Derweil verbietet sich ihr Mann zu sterben, bis S. im Gefängnis sitzt. Weil es ihn wahnsinnig macht, was der Apotheker seiner Angelika angetan haben soll, Ehefrau und Mutter seiner zwei Kinder, die ihm Inspiration ist und Stütze, Antrieb und Bremse, je nachdem, was er gerade braucht. "Ohne sie würde ich keinen einzigen Tag klarkommen", sagt Fischer.

Er ist ein ausgesucht höflicher Mann, geduldig und großzügig. Bis er gereizt wird, von Großen, die Kleinen Unrecht antun in der Gewissheit, damit durchzukommen. "Ich kann es einfach nicht ertragen, wenn Macht das Recht ersetzt", sagt er. Fischer ist einer der wenigen, der solche Kämpfe ausficht, er scheint dafür auserkoren zu sein.

Ein Kämpfer gegen die Großen

Er hat für Alzheimerkranke und Bergbaugeschädigte gekämpft, hat 1984 sogar eine Partei gegründet, um den Bürgermeister seines damaligen Wohnorts zu stürzen, alles erfolgreich. Die Deutsche Bank und selbst Apple hat er vor Gericht besiegt. Nun kämpft er für Angelika.

Am 30. Mai 1971 hatte ihre Liebesgeschichte begonnen, es war das erste Mal überhaupt, dass die damals 16-Jährige in Detmold in die Disko durfte. Sie sahen sich in die Augen an diesem Abend, sie tanzten, und sie redeten, und als sie drei Jahre später heirateten, kam ihnen die gemeinsame Zeit viel kürzer vor und viel länger zugleich. An den grün-weiß-violett karierten Hosenanzug, den sie bei ihrer ersten Begegnung trug, erinnert er sich noch heute. Doch ihre gemeinsame Zeit läuft ab.

Fischer ist unendlich zornig auf den Mann, dessen mutmaßliche Taten erst durch zwei mutige Mitarbeiter ans Licht kamen und der seit einem Jahr eisern schweigt, während wohl noch immer Patienten unnötig leiden und zu früh sterben.

"Der Fehler steckt im System"

Der Fall übersteigt seinen Verstand, und doch analysiert er: "Der Fehler steckt im System. Die Versuchung ist viel zu groß. Wer mehr Wirkstoffe abrechnet, als er eingekauft und ausgeteilt hat, kann Millionengewinne einstreichen." Bislang lässt sich Betrug mit individuell angemischten Krebsmedikamenten nicht nachweisen, weil es praktisch keine unangekündigten Kontrollen gibt und kein noch so kleiner Rückstand der Mischungen archiviert wird. "Die Apotheker wehren sich dagegen, weil sie damit angeblich unter Generalverdacht gestellt würden", sagt Fischer verächtlich. "Dabei ist doch das Gegenteil der Fall." Was Fischer für Massenmord hält, werde systematisch kleingeredet, sagt er; von den Aufsichtsbehörden, dem Gesundheitsministerium, der Staatsanwaltschaft.

Dazu muss man wissen, dass Fischer das Gegenteil eines Verschwörungstheoretikers ist. Bürger durch und durch. Anstand ist zentral für den gelernten Bankkaufmann, der weiß, was Maloche heißt, sein Vater war Hochofen-Schlosser. Haltung heißt für ihn nicht nur Contenance. Sondern auch Rückgrat. Von beidem besitzt er so viel, dass es ihm oft zum Nachteil gereicht. Weil er sich nur im stillen Kämmerlein erlaubt zu leiden, glauben ihm viele kaum, wie schlimm es um ihn steht.

Aber seine Anzüge haben perfekt gesessen, früher, bevor er zehn, 15 Kilo an den Krebs verlor. Fischer trägt stets Schlips und Jackett statt Jogginghose. Der Krebs wird ihn töten, aber klein kriegt er ihn nicht. "Wenn ich untergehe", sagt Fischer, "dann aufrecht und mit wehenden Fahnen."

Sein Testament zu schreiben sieht er nicht ein. "Vielleicht ist das deine Art, dein Sterben zu verdrängen?", fragt Angelika sanft. Hans-Jürgen Fischer stutzt, überlegt, und schüttelt dann den Kopf. Er weiß bloß, dass sich seine Frau und ihre Kinder sowieso nie über das Erbe in die Haare kriegen würden. So setzt er Prioritäten, ebenso wie Angelika, die die Hausarbeit immer öfter Hausarbeit sein lässt. Egal, was die Leute sagen.

Die Fischers heulen nicht, sie handeln. Weil sie es können, und das als Verpflichtung verstehen. Fischer freut sich wie ein Schneekönig auf die Schlacht, und über das Adrenalin in seinem Blut vergisst er die Schmerzen in seinen Knochen.

Aus Furcht, der Apotheker werde nach Ablauf des üblichen Maximums von sechs Monaten laufengelassen, hatte Fischer im Juni mit unserer Redaktion gesprochen. An dem Freitag, als das Interview erschien, rief die damalige Gesundheitsministerin Barbara Steffens bei ihm an. Am Montag darauf traf sie sich mit ihm und seiner Frau, stundenlang - bis die Fischers das Gespräch beendeten, weil alles Wichtige gesagt war. Steffens' Nachfolger Karl-Josef Laumann hat ihn umso tiefer enttäuscht, nicht nur einmal, sondern wieder und wieder, aber der Grundstein ist gelegt, die Öffentlichkeit ist aufgeschreckt.

Und nachdem sie ein Jahr lang erfolglos darum gestritten hatten, auch nur Akteneinsicht zu bekommen, sollen die Fischers am Montag doch noch als Nebenkläger zugelassen werde, in allerletzter Minute.

Was, falls er das Ende des Prozesses nicht erlebt? "Wäre schade und ärgerlich. Aber wäre dann eben so", sagt Fischer. Hadern mit dem Schicksal lohne sich nicht, finden die Fischers, deshalb lassen sie es. Angst vor dem Tod habe er nicht, sagt Fischer, nur auf ein qualvolles Sterben würde er gern verzichten. "Aber da bin ich guter Dinge. Ich tippe mal auf multiples Organversagen und Aus." An Alzheimer jedenfalls werde er garantiert nicht zugrundegehen, sagt Fischer, und über seine Rente werde er auch nicht klagen müssen. Dann prustet er los, in dem Wissen, dass er nicht tot zu kriegen ist, nicht wirklich.

Er glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod, aber unsterblich ist er doch. In Angelika und ihren Kindern. Und seinen Siegen für andere.

(tojo)
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