Düsseldorf Drängeln und rennen

Düsseldorf · In der Rheinoper feierte "b.26" Premiere, eine Reise durch die Ballett-Geschichte seit dem 19. Jahrhundert.

 Szene aus dem Ballett "One" von Choreograph Terence Kohler.

Szene aus dem Ballett "One" von Choreograph Terence Kohler.

Foto: Gert Weigelt

Das Schrägste ist die Leiter. Die wird nach zwei Stunden angeschleppt und an einen der grauen Brocken gestellt. Für "One", das letzte Ballett des Abends, haben sie eine Mauer hochgezogen, gegen die sie dutzendweise anrennen, aber nicht ankommen, die mal für ein paar Meter erklommen wird, aber schnell stürzt man wieder ab. Dann, als letzter Ausweg, kommt die Leiter, und das Publikum sieht nun einem nach dem anderen zu, wie sie den Aufstieg nehmen; so grazil ist nie zuvor einer an Sprossen hochgeflogen.

Das ist das Ende des Ballettabends "b.26", der nun an der Rheinoper Premiere feierte, nachdem die Produktion in Duisburg gezeigt wurde. "b.26" ist wieder mal ein Dreiteiler, so wie "b.27" und "b.28", die Direktor Martin Schläpfer von seinem Ballett am Rhein zuletzt aufführen ließ. Es geht einmal durch die Ballett-Zeitgeschichte. Zum Schluss stehen "One" und die Gegenwart — die Uraufführung der Choreografie von Terence Kohler ging im Januar über die Bühne. Zu Beginn des Abends werden Tänze von August Bournonville gezeigt. Uraufführungen: Mitte des 19. Jahrhunderts. Und das sieht man.

Zu "Ballerina" findet man im Internet Fotografien von Frauen, die aussehen wie in diesem von Johnny Eliasen zusammengestellten "Divertissement": mit viel Tüll und Tutu. Am Bühnenrücken zeichnet sich der Horizont hellblau und wolkenlos ab, das Ensemble ist in eine Welt aus Pastellfarben geraten, es wird eine Balz aufgeführt. Junge Männer in Trachten machen den Damen Avancen, sie stehen im Halbkreis herum, um sich hin und wieder in die Mitte zu schieben. Ihre Soli tanzen die Frauen auf Zehenspitzen, und die Herren plustern sich bei großen Sprüngen auf wie Gockel. Zum Duett wollen die Damen denn auch aufgefordert werden, Nebenbuhler werden von den Herren schon mal weggedrängelt, klassischer geht es nicht. Technisch ist das hochversiert und wirkt so leicht wie die Musik von Edvard Mads Ebbe Helstedt und Holger Simon Paulli, aber natürlich ist das wie aus der Zeit gefallen, 150 Jahre weit entfernt davon, einmal die Geschlechterverhältnisse zu hinterfragen. So irritiert dieser kandidelte Auftakt, ist aber auch faszinierend anzusehen wie Retrokitsch, den man auf Trödelmärkten bestaunt, aber lieber doch nicht kaufen mag.

Dann die Brechung zum zweiten Teil des Abends, eine ganz andere Stimmung nun: ein Trauerspiel von Antony Tudor, "Dark Elegies", das 1937 erstmals aufgeführt wurde. Die Musik stammt von Gustav Mahler, der die "Kindertotenlieder" des Dichters Friedrich Rückert vertonte. Die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Axel Kober haben nun Bariton Dmitri Vargin zur Seite, der sitzt am rechten Bühnenrand auf einem Schemel, weißes Hemd, schwarze Weste, klagend.

Es gibt in "Dark Elegies" kein großes Drama, kein Zetern, vielmehr stille Wehmut, Andacht auf Knien, das ist viel bedrückender. Weniger Spitze nun, dafür mehr Ausdruck. Rabenschwarz ist die Bühne, da ist nichts Festliches mehr wie noch bei Bournonville.

Es ist irre, wie sich diese Stimmung überträgt: Totenstille zwischen den Liedern, Applaus gibt es nur zum Schluss. Zuletzt verlässt Camille Andriot die Bühne, sie hatte "Dark Elegies" mit einem Solo eröffnet. Nun wirkt sie versehrt, schleppt sich hinaus, erreicht den Ausgang nicht einmal, bis sich der Vorhang senkt.

Zuletzt dann "One", es gibt nun keinen Ausweg mehr, nur noch die Mauern und Blöcke, die aussehen wie die "White Wall" aus dem seit Jahren welterfolgreichen Serien-Epos "Game of Thrones" — nur in grau. Aber man muss gar nicht an Fantasy denken, man kann sich auch ans Mittelmeer oder die Zäune an der spanisch-marokkanischen Grenze erinnert fühlen, jedenfalls an überwindbare Hürden. In "One" steht bald das gesamte Ensemble in Tarnfarben auf der Bühne, es wird angerannt, gezerrt, gerangelt, bis zum Umfallen manchmal. Mal auf dem Rücken des anderen, einmal an Steinen wie aus der Kletterhalle scheitern die Versuche. Diese Mauern bleiben standfest und dahinter türmen sich ohnehin noch höhere. Es erklingt Johannes Brahms 1. Sinfonie, die zuweilen an Beethovens 9. erinnert, an "Freude schöner Götterfunken", die Europa-Hymne. Schließlich bringen sie die Leiter auf die Bühne, ratlos lässt einen die sehr pragmatische Lösung zurück, ein Deus ex Machina aus dem Baumarkt.

(kl)
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