Düsseldorfer Geschichten Mein Leben als Weihnachtsbaum

Düsseldorf · Seit Mitte November steht der Tannenbaum aus Lillehammer vor dem Rathaus. Für unsere Redaktion hat er aufgeschrieben, was er tagsüber erlebt, welchen Stand er überhaupt nicht mag – und mit wem er nachts lange Gespräche führt.

Höher wird’s nicht — auf dem Marktplatz überragt die Tanne aus Lillehammer alle anderen Bestandteile des Weihnachtsmarktes. Das Rathaus aber versperrt ihr die Sicht.

Höher wird’s nicht — auf dem Marktplatz überragt die Tanne aus Lillehammer alle anderen Bestandteile des Weihnachtsmarktes. Das Rathaus aber versperrt ihr die Sicht.

Foto: Endermann, Andreas

Seit Mitte November steht der Tannenbaum aus Lillehammer vor dem Rathaus. Für unsere Redaktion hat er aufgeschrieben, was er tagsüber erlebt, welchen Stand er überhaupt nicht mag — und mit wem er nachts lange Gespräche führt.

Düsseldorfer Geschichten: Mein Leben als Weihnachtsbaum
Foto: Andreas Bretz

Warum sie ausgerechnet mich nach Düsseldorf geschickt haben, weiß ich noch immer nicht. Ich weiß nur, dass sie eines Tages im November mit der Säge kamen und mich auf einen Lkw packten. Dann pfiff mir der Wind eine ganze Weile um die Ohren, bis sie mich an der Stelle, an der ich nun stehe, wieder aufbauten. Es dauerte eine Zeit, bis ich begriff, dass ich nicht mehr in Lillehammer war, nicht mal mehr in Norwegen. Sondern in Deutschland. Vor dem Rathaus in Düsseldorf.

Sie wollen das vermutlich nicht hören, aber mir gefällt das überhaupt nicht. In Norwegen stand ich 25 Jahre auf einem Privatgrundstück im Süden der Stadt und konnte mit meinen 15 Metern alles überblicken, weil es hier keinen Grund gab, in die Höhe zu bauen. Der größte See des Landes lag nur ein paar Hundert Meter entfernt, Menschen sah ich selten und im Winter lag eine dichte Schneedecke über der Stadt. Kurz, ich hatte meine Ruhe, ich konnte meinen Gedanken nachhängen und den Blick schweifen lassen. Damit ist es jetzt vorbei.

Es begann schon damit, dass sie mich mit riesigen roten Kugeln und riesigen roten Zapfen und riesigen roten Schleifen schmückten. Dann legten sie mir noch eine Lichterkette um die Zweige, und damit hatte sich die Sache mit dem Schlaf erledigt. Tagsüber ist ohnehin zu viel los, selbst für ein kurzes Nickerchen. Sie müssen wissen, die Stadt hielt es für eine gute Idee, mich als Attraktion des Weihnachtsmarktes aufzustellen.

Hinter mir Häuser, die mir den Blick versperren, rechts von mir Häuser, die mir den Blick versperren, vor mir Häuser… und so weiter. Nur wenn ich nach links blicke, sehe ich eine Straße mit vielen Kneipen hinunter, in denen es abends sehr laut wird. Vielen Dank dafür. Schon tagsüber sitzen die Leute draußen unter diesen Heizpilzen und schaufeln 6,95-Euro-Gerichte in sich hinein. Warum haben sie so ein starkes Bedürfnis, auch im Winter draußen zu essen? Es ist ja nicht so, dass da Frauen im Minirock vorbeilaufen.

Ab 11 Uhr geht es jeden Tag los

Ach ja, Sie wollen vermutlich wissen, wie toll ich den Weihnachtsmarkt zu meinen Füßen finde und ob es von oben mit den ganzen Lichtern nicht besonders romantisch aussieht. Ähem… lassen Sie es mich so ausdrücken: nein. Immerhin habe ich mein Deutsch auffrischen können. Meine Schulzeit liegt doch etwas länger zurück. Los, sagen Sie es schon. Genau, ich bin zu einer Baumschule gegangen. Japanisch und Niederländisch kann ich mittlerweile auch.

Ab 11 Uhr geht es jeden Tag los. Kaum riechen die gebrannten Mandeln nach gebrannten Mandeln, die Bratwürste nach Bratwürsten, die Reibekuchen nach Reibekuchen und der Glühwein nach Glühwein, und kaum weht eine Jazz-Version von "Jingle Bells" über den Platz, gefolgt von einer Jazz-Version von "Leise rieselt der Schnee", kaum also kommt der ganze Weihnachtsmarktwahnsinn in Fahrt, zieht es die Leute dorthin, als gebe es etwas umsonst. Dabei ist es alles andere als umsonst. Weihnachten ist wie Hochzeit. Alles ist teurer, aber keinen stört es. Das ist eben der Preis, den man für die Romantik zahlt. Gerade beim Essen scheinen die Menschen jegliche Vernunft abzulegen. Mach es heiß und die Leute kaufen es. Wann trinken die eigentlich keinen Glühwein? Sobald es dunkel wird, kommen die Besucher in der Nähe der Heißgetränke-Areale nicht mehr voran, indem sie gehen, sondern indem sie schieben.

Damit aber könnte ich noch leben. Die Produkte sind zwar kitschig oder kalorienreich, haben aber zumindest im weitesten Sinne mit Weihnachten oder Winter zu tun. Doch ausgerechnet beim Stand mir gegenüber kann ich das nicht erkennen. Wenn Sie schon mal an mir vorbeigelaufen sind, wissen Sie, was ich meine. Die Typen haben den ganzen Tag nichts Besseres zu tun, als Mützen und Kappen und Schuhe mit Farbe und Motiven zu besprühen. Manchmal sagt der Verkäufer dort sogar "geil". Das ist doch kein Wort für die Vorweihnachtszeit. Ich bin auch noch keine 30, aber wie will denn so ein Kerl später Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, wenn er sich keiner angemessenen Sprache bedienen kann?

Deshalb lasse ich meinen Blick lieber regelmäßig schweifen, es gibt ja für mich auch sonst wenig zu tun. Ich stehe eben so rum, spiele den Weihnachtsbaum und lasse mich fotografieren. Ab und zu kommt ein Typ im orangen Anzug und befreit mich von dem Müll, den die Leute unter meine Zweige werfen. Aber sonst muss ich schon selbst für Unterhaltung sorgen. Wenn ich ganz weit nach links blicke, sehe ich zum Beispiel diese Bäckerfiguren im Schaufenster von Bäcker Hinkel, die sich mechanisch bewegen. Allerdings nicht mechanischer als die Frau, die auf der Bolkerstraße ihren Spruch "Hallo, guten Tag, Steak, Fisch, Pizza, Pasta" aufsagt. Häufig bleibt mein Blick auch an dem Schmiedestand hängen. Der junge Mann, den ich dort häufiger sehe, hat nicht unbedingt den stressigsten Job. Man kann dort einen Gutschein kaufen für einen Schweißer-Workshop, aber es denken nicht total viele Leute: Ach, jetzt schenk ich dem Manfred zu Weihnachten mal einen Tag in der Schmiede.

Irgendwann aber, so nach acht, findet der Wahnsinn ein vorläufiges Ende

Wenn ich mich strecke, kann ich auch sehen, was am Karussell passiert. Bis mittags ist das meist nicht viel. Ich erinnere mich noch genau an das Mädchen mit den Hello-Kitty-Handschuhen, das sich auf das Pferd gesetzt hatte. Am Anfang zerrte es noch an den Zügeln, aber dann saß es für den Rest der Fahrt ziemlich apathisch da. Ich vermute, die Kleine hat gemerkt, dass das Pferd bloß ein Stück bemaltes Holz ist und sie bald in die Schule kommt und ihr Leben damit vorbei ist. Dann beobachte ich doch lieber, was sich zwischen der Frau von der Crêpes-Produktion und dem Typen vom Nüsse-Stand tut. Ich bin ziemlich nah dran am Geschehen. Manchmal kommt der Kerl rüber und holt sich einen Crêpes, dann wieder kommt sie rüber und greift sich ein paar gebrannte Nüsse. Ich glaube, dass es zwischen den beiden gefunkt hat. Wenn es kalt ist, ist einem jede Wärme recht, sogar menschliche.

Irgendwann aber, so nach acht, findet der Wahnsinn ein vorläufiges Ende. Wenn es Nacht wird und die ganzen Leute verschwunden sind und ich nicht einschlafen kann, weil die Lichterketten mir ins Gesicht leuchten, suche ich das Gespräch mit dem Reiterdenkmal. Er hat sich mir als Jan Wellem vorgestellt. Ich weiß jetzt, was Sie wieder denken. Dass nachts die Teelichter und Holzchristuskinder und Wurstzangen zum Leben erweckt werden und eine Party feiern. Aber das ist kein Walt-Disney-Film. Jan Wellem lebt, ich lebe, sonst sind alle tot. Im Prinzip ist Jan Willem ein prima Kerl. Er steht dort schon seit 1711. Er ist ein bisschen neidisch auf mich, weil ich größer bin als er, und deshalb erzählt er mir, dass ich nach Weihnachten hier wieder verschwinden und zu Kleinholz verarbeitet werde. Ich glaube ihm kein Wort. Wenn er mir nicht gerade Lügengeschichten auftischt, philosophieren wir über das Wesen der Weihnachtszeit. Wir sind uns einig, dass die Menschen der Wille zur Illusion eint. Dass sich alle einreden, dass sie das wirklich alles total gerne machen, diese Mischung aus Fettgeruch, Holzspielzeug und Nostalgie, und dass alle eine Übereinkuft getroffen haben, sich nicht gegenseitig an den Selbstbetrug erinnern.

Aber dann ist etwas passiert. Also die Geschichte mit dem Mädchen, das Karussell fährt. Ich habe sie nicht ganz zu Ende erzählt. Das Mädchen ist wiedergekommen. Es hat sich auf dasselbe Pferd gesetzt. Es hat während der ersten Runde begeistert an den Zügeln gezogen, es hat während der zweiten Runde an den Zügeln gezogen und es hat auf der letzten Runde an den Zügeln gezogen. Ich bin nicht aus Stein.

(cwo)
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