Mönchengladbach Das Internet-Projekt einer 102-Jährigen

Mönchengladbach · Ella Balkow ist 1912 geboren und startet nun ein für ihr Alter ungewöhnliches Projekt. Mit Enkelin Natalie und Urenkel Philipp möchte sie einen Wandkalender produzieren - finanzieren wollen sie das Projekt per Crowdfunding übers Netz.

 Enkelin Natalie mit Oma Ella Balkow und Urenkel Philipp. Gemeinsam arbeiten Sie am Wandkalender, den sie mit Hilfe der Internetgemeinde finanzieren wollen.

Enkelin Natalie mit Oma Ella Balkow und Urenkel Philipp. Gemeinsam arbeiten Sie am Wandkalender, den sie mit Hilfe der Internetgemeinde finanzieren wollen.

Foto: Raupold

Der erste Reflex ist natürlich: laut sprechen. "Guten Tag, Frau Balkow", ruft man also, dass sicher auch die Nachbarn mithören können. Ella Balkow nickt freundlich und sagt "Hallo" - in einer Lautstärke, die einem bedeutet: Schreien Sie hier mal nicht so rum, junger Mann. Sie versteht jedes Wort.

Die Haustür in Windberg öffnete Enkelin Natalie Balkow, Oma Ella wartete am Wohnzimmertisch. Hier gibt es Möbel aus dunklem Holz, Schokokekse und den stärksten schwarzen Kaffee der Stadt. Urenkel Philipp rührt in seiner Tasse, Ella Balkow sitzt ihm gegenüber. Zwischen ihnen hängt ein Kunstdruck im Goldrahmen, könnte Rubens sein. Oder Rembrandt. Als Philipp auf die Welt kam, war Ella 85 Jahre alt. Heute ist er 17. Sie ist 102.

Allein das wäre es wert, einmal von Ella Balkow zu erzählen, oder zuzuhören, was sie zu sagen hat. Weil Balkow viel erlebt hat, viel gesehen hat, viel Zeit auf dieser Welt verbracht hat, ein ganzes Jahrhundert. Zwei Kriege und zwei Nachkriegszeiten hat sie mitgemacht, war auf der Flucht, sie machte rüber, wie man sagte, in den Westen, 1956 kam sie aus Halle an der Saale nach Mönchengladbach. Jetzt sitzt sie auf einem Stuhl mit Federkern, den man für viel Geld als "Retro" verkaufen könnte. Sie sagt: "Was waren denn das für Zeiten."

Sie hat vieles davon erzählt, in der Familie kennt man ihre Erlebnisse. "Die Geschichten kursierten immer schon", sagt Natalie Balkow. Und so bat die Enkelin die Oma, manches davon einmal aufzuschreiben. So fing es an, das Mehrgenerationen-Projekt, das nun zur Internet-Kampagne avanciert.

"Der Kalender der Hundertjährigen", heißt es. Ein Kalender, zwölf Motive. Zwölf Geschichten von Ella Balkow. Gemeinsam haben sie das Konzept entwickelt. Vorne Natur-Fotografien und Kalenderblätter, auf den Rückseiten je eine Erzählung der 102-Jährigen. So stellen sie sich das vor. Weil sie nicht nur einen Kalender produzieren wollen, sondern so viele wie möglich, braucht es allerdings eine Vorfinanzierung. Darum haben sie eine Seite auf der Crowdfunding-Plattform "Startnext" geschaltet. Die Frage muss erlaubt sein: Wissen Sie, was das ist? "Wusste ich erst nicht", sagt Ella Balkow, "aber ich habe es mir erklären lassen, und jetzt weiß ich es."

Crowdfunding lässt sich ganz frei mit "Schwarmfinanzierung" übersetzen, aber das klingt so steif, dass alle Welt nur Crowdfunding sagt. Crowdfunding ist eine Methode, um im Netz Gelder für Projekte zu generieren. Zumeist sind es kleine Beträge, jeder liquide Internetnutzer, der von einer Idee überzeugt ist, beteiligt sich an der Finanzierung - die Masse macht's. Wird ein Zielbetrag erreicht, kommt das Projekt zustande. Andernfalls fließt das Geld zurück an die die Kapitalgeber.

Heutzutage werden so Tonträger und Spielfilme für hunderttausende Dollar finanziert. Oder eben Wandkalender. Die Balkows wollen 2000 Euro sammeln, in nunmehr 48 Tagen.

Bei "Startnext" erklären sie ihr Projekt. Es gibt ein Video, da sieht man Ella Balkow und die dunklen Stühle und den Rubens oder Rembrandt und die alte Dame sagt: "Mein Name ist Ella Balkow. Ich bin im Jahre 1912 geboren, und wie Sie sich ausrechnen können, inzwischen 102 Jahre alt."

Sie sitzt am Tisch und schreibt - im Video. Im echten Leben sitzt sie am Tisch und erzählt, erst in den 90ern habe sie mit dem Schreiben begonnen. "Vorher hatte ich doch überhaupt keine Zeit, ich habe drei Kinder."

Ella Balkow hat zwei Söhne und eine Tochter großgezogen, davon erzählt sie auch. "Der Geburtstagskuchen" wird eine der Kalender-Geschichten heißen, sie spielt im September 1945, ganz kurz nach dem Krieg. Ella Balkow war Anfang 30 und Sohn Jürgen hatte Geburtstag. Er wünschte sich nichts, bloß einen Kuchen, erzählt Balkow, "aber es gab ja keinen Zucker". Aber ein Zuckerrübenfeld, nur: die Rüben waren noch nicht reif. "Jürgen war vier Jahre alt", erzählt Balkow. "er hatte noch kein Zeitgefühl, da habe ich den Geburtstag auf Oktober verlegt."

Alle Geschichten sind "wahr" - autobiografisch - sagt die Autorin, nichts sei erfunden. "Das ist ihr sehr wichtig", sagt Natalie Balkow. Es sollen Schlaglichter sein, die Erzählungen reichen bis in die Gegenwart, sagt die 45-Jährige. Die Enkelin, eine Werbetexterin, kümmert sich ums Organisatorische, Urenkel Philipp hilft, wo er kann.

Einen eigenen Computer hat Ella Balkow übrigens nicht. "Das lohnt sich nicht mehr", sagt sie. "Das sagt sie seit zehn Jahren", sagt ihre Enkelin.

(RP)
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