Synagoge vor 79 Jahren in Rheydt angezündet "Wir waren völlig sprachlos und stumm"

Mönchengladbach · Vor 79 Jahren zündeten Nazis Synagogen an. Pfarrer Olaf Nöller von der Hauptkirche Rheydt sprach darüber mit einem 94-jährigen Augenzeugen, der immer noch davon betroffen ist, was er damals in Rheydt miterlebt hat.

 Das Kaufhaus der Gebrüder Abraham, einer jüdischen Familie. Das Haus stand an der Ecke Marktstraße/Friedrich-Ebert-Straße in Rheydt

Das Kaufhaus der Gebrüder Abraham, einer jüdischen Familie. Das Haus stand an der Ecke Marktstraße/Friedrich-Ebert-Straße in Rheydt

Foto: Sammlung Olaf Nöller

"Herr Pastor, viele glauben das heute nicht mehr!", sagt mein Gegenüber mit Empörung in der Stimme - so, als könne er es überhaupt nicht fassen, dass es Menschen gibt, die den Holocaust leugnen oder nichts mehr davon wissen wollen. Und dann nimmt mich der freundliche alte Herr, der in der Rheydter City wohnt und dem man seine fast 94 Lebensjahre nicht ansieht, mit auf eine dramatische "Zeitreise" ins alte Rheydt.

Obwohl seine Augen schwach geworden sind, worunter er leidet, blickt er mit hellwachem Verstand und glasklarem Gedächtnis zurück in eine finstere Zeit, die uns Nachgeborenen immer mehr aus der Vorstellungskraft entschwindet. Sie kann nur noch durch historische Dokumente, Bilder, Filme und eben solche Zeitzeugenberichte wachgerufen werden. Unglaublich erscheint ansonsten, was vor 79 Jahren auch in unserer Stadt geschah:

 Das ist das einzige Foto, das es von der Rheydter Synagoge noch gibt. Sie stand in einem gepflegten Wohngebiet an der Peltzerstraße (heute Werner-Gilles-Straße). Der Augenzeuge erinnert sich noch daran, wie sie gebrannt hat.

Das ist das einzige Foto, das es von der Rheydter Synagoge noch gibt. Sie stand in einem gepflegten Wohngebiet an der Peltzerstraße (heute Werner-Gilles-Straße). Der Augenzeuge erinnert sich noch daran, wie sie gebrannt hat.

Foto: Sammlung Olaf Nöller

"Es war abends gegen 21 Uhr, ich lag schon zu Bett im dritten Stock meines Elternhauses auf der oberen Hauptstraße", so beginnt er seinen Bericht vom 9./10. November 1938, um den ich ihn gebeten habe. "Plötzlich war ein fürchterliches Scheppern und Klirren unten auf der Straße zu hören. Verängstigt schlich ich mich hin zum Fenster. Zwei Häuser weiter lag ein Damenhutgeschäft, das einer jüdischen Familie gehörte..." Der 13-Jährige sah, wie SA-Männer die Auslagen der Schaufenster verwüsteten, Waren in den Dreck warfen und sich "aus Jux" Hüte auf den Kopf setzten. Da zog ihn seine Mutter weg vom Fenster mit den Worten: "Ich will nicht, dass du das siehst!" Am nächsten Morgen, bemerkte der Pennäler, als er die heutige Brucknerallee entlang ging, dass die Schüler der Städtischen Oberrealschule (heute Hugo-Junkers-Gymnasium) vom Schulgebäude weg in Scharen zur Peltzerstraße (heute Werner-Gilles-Straße) liefen. Dort stand in einem gepflegten Wohngebiet, hinter der "Staatlichen Handels- und Gewerbeschule", die noch immer brennende Synagoge der jüdischen Gemeinde. Hunderte Schaulustige starrten auf das Inferno.

Schließlich kam der wütende Hausmeister und trieb die widerwilligen Schüler zum Unterricht; es hatte schon mehrmals geschellt. Als der Unterricht begonnen hatte, so erzählt mein Gesprächspartner, wurde plötzlich die Klassentür aufgerissen. Der Schuldirektor und ein SS-Offizier kamen herein. Dieser brüllte: "Walter Salomon, komm' mit!" Der verschreckte Junge stand auf, ging mit und wurde nie mehr gesehen. Keiner im Klassenraum sagte etwas dazu - "wir waren völlig sprachlos und stumm". Unter größter innerer Spannung erzählt mir der alte Herr seine Erlebnisse aus jenen zwölf Jahren, als auch Rheydt unter dem Hakenkreuz lebte. Dabei hatte auch seine Familie mancherlei Schwierigkeiten mit der Gestapo, weil sein Vater, der eine Rheydterin geheiratet hatte, belgischer Staatsangehöriger war. Als der Knabe deswegen aus der "Hitlerjugend" geworfen wurde, empfand er es als positiv: "Ich hatte keine Lust auf das stundenlange Marschieren."

Er erzählt weiter: "Wir fuhren 1938 zum letzten Mal vor Kriegsausbruch zu meinen Verwandten nach Belgien. Im Zug saß uns die ganze Zeit ein altes, dunkel gekleidetes Ehepaar gegenüber. Sie sprachen kein Wort mit uns, hörten aber offenbar aufmerksam zu. Im Hauptbahnhof von Brüssel standen sie auf, um auszusteigen. Plötzlich drehte sich der alte Herr um und sagte in fließendem Deutsch: Die Rache Jehovas ist euch gewiss!"

Meinem Interviewpartner kommen die Tränen: "Das werde ich mein Leben nicht vergessen. Herr Pastor, genauso ist es gekommen! Wenn man solches Unrecht tut, dann muss man auch dafür bezahlen." Er vermag kaum weiterzusprechen. Aus früheren Gesprächen weiß ich, dass er während der Luftangriffe, die Rheydt ab 1943 in eine Trümmerwüste verwandelten, mehrfach nur knapp dem Tod entronnen ist. Sein Vater kam Ende 1944 ums Leben, da er nach NS-Auffassung nicht zur "deutschen Volksgemeinschaft" gehörte und darum keine Luftschutzräume benutzen durfte. "Das war eine böse Zeit!", fasst er sichtlich erschöpft zusammen, um dann noch lebhaft zu unterstreichen: "Das waren alles hochanständige Leute, die Juden, die in Rheydt lebten."

Seinen Kinderarzt, den damals sehr geschätzten Dr. Otto Sommer von der Harmoniestraße, nennt er als Beispiel. Dann fällt ihm noch ein, wie ein verzweifelter jüdischer Herr seinem Vater sein Haus in der Roonstraße (heute Karstadt) weit unter Wert zum Verkauf anbot, um damit die Flucht aus Deutschland zu finanzieren. Der Vater lehnte ab - aus Sorge, er könne sich und seine Familie dadurch in Gefahr bringen.

Wir müssen das Gespräch beenden. Auch ich spüre, dass ich aufgewühlt bin. Vieles, was ich gehört habe, erinnert mich an das, was mir junge Flüchtlinge aus ihren Heimatländern anvertraut haben. Auch dort gilt: Wenn man anders denkt und auch sonst irgendwie aus der Reihe tanzt, wird man brutal fertig gemacht: Gefängnis und Folter, weil man eine Bibel in der Tasche hatte; Todesdrohungen, weil man sich geweigert hat, für irgendeine Seite in den "heiligen Krieg" zu ziehen; Ächtung und Gewalt, weil man Gefühle empfindet, die tabuisiert sind. Kein ernst zu nehmender Gesprächspartner will uns heute noch Schuldgefühle einreden. Ich habe das bei vielen Reisen in Länder, die unter den Nazis gelitten haben, und sogar bei Besuchen in Israel nie so gehört. Aber Empathie für das Leiden der Opfer von damals und auch praktische Hilfsbereitschaft für die Opfer von heute, dazu müssen wir doch wohl fähig sein, oder? Eine "Zeitreise" ins Jahr 1938 und die Beschäftigung mit der Situation der Menschenrechte in vielen Ländern sind da förderlich. Man verspürt tiefe Dankbarkeit, hier in Deutschland leben zu dürfen.

Dagegen hat faschistoides Denken, das Einzelne und ganze Menschengruppen zu Feinden erklärt, auch heute weltweit Konjunktur - und selbst den abstrusen Rassismus, der völkische Überlegenheit propagiert und so menschliches Mitgefühl allmählich abtötet, gibt es in den unterschiedlichsten Spielarten. Darum halte ich es für notwendig, sich auch weiterhin jener furchtbaren Ereignisse zu erinnern, die in der Pogromnacht des 9./10. Novembers 1938 überall in Deutschland und später in vielen Ländern Europas geschahen. Wir sind es den unzähligen jüdischen und nichtjüdischen Nazi-Opfern, die für immer aus dem Gedächtnis der Menschheit ausgetilgt werden sollten, schuldig.

Wer heute darüber schweigen will, betreibt genau das, was Adolf Hitler wollte. Und es geht um unsere staatspolitische Verantwortung! Sie verlangt von uns, mehr denn je, Lehren aus unserer Geschichte zu ziehen, heraufziehende Gefahren zu erkennen und wie jener alte Herr mutig Zeugnis abzulegen, was passierte und wieder passieren wird, wenn Hass um sich greift.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort