Interview mit Michel Friedman "Ämter haben Nazi-Pannen vertuscht"

Düsseldorf · Michel Friedman, früheres CDU-Präsidiumsmitglied und Ex-Vizepräsident des Zentralrats der Juden, macht Innenministern und Verfassungsschutz schwere Vorwürfe im Umgang mit dem Nazi-Terror. Zugleich beklagt er einen zunehmend aggressiven Antisemitismus.

 Michel Friedman sprach im Interview mit unserer Redaktion über die Situation der Juden in Deutschland.

Michel Friedman sprach im Interview mit unserer Redaktion über die Situation der Juden in Deutschland.

Foto: RPO

Die frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, hat verzweifelt gefragt: "Wollt ihr uns Juden überhaupt noch?" Hat sie recht?

Friedman Jeder wählt seine eigenen Worte, um seine Stimmung auszudrücken. Ich würde es anders sagen. Mir ist es völlig egal, ob man mich will oder nicht. Ich bin einfach da und bestimme selbst, ob ich da bin oder nicht mehr da bin. Aber ich bin insofern nah bei Frau Knobloch, als es in jüngster Zeit eine ganze Anzahl von Enttäuschungen und Fehltritten gab bis hin zu verbaler und körperlicher Gewalt. Und das wirft ein dunkles Licht darauf, wie die deutsche Gesellschaft mit Minderheiten und insbesondere der jüdischen Minderheit umgeht.

Haben Sie den Eindruck, dass sich die Lage für die Juden in Deutschland verschlechtert hat?

Friedman Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder, es ist einige Zeit etwas unter dem Deckel gehalten worden, was sich jetzt offen rassistisch und antisemitisch äußert. Es kann aber auch sein, dass es mehr ist als es war. Es war nie wenig. Wir können nicht einmal mehr sagen "Wehret den Anfängen". Wir sind weit über die Anfänge hinaus.

Können Sie uns Belege für Ihre zweite These nennen?

Friedman Es existiert inzwischen im Internet ein Alltags-Antisemitismus der brutalsten und gewaltsamsten Sorte. Nazi-Parteien werden in Landtage demokratisch legitimiert gewählt. Die Anzahl der Gewaltakte gegen Juden und Ausländer ist besorgniserregend, von der verbalen Gewalt ganz zu schweigen. Und: Es sind nicht nur die erkennbaren Nazis, die mir Sorgen machen, sondern vor allen Dingen die verdeckten und versteckten im Nadelstreifenanzug beim Cocktail-Empfang.

Hat die Beschneidungsdebatte antisemitische Ausfälle hervorgerufen?

Friedman Die Debatte um die Beschneidung wird von vielen zum Vorwand genommen, endlich mal alles das zu sagen, was man schon immer über den Juden sagen wollte. Wohlgemerkt: Ich finde es richtig und wichtig, über die Beschneidung zu diskutieren, aber nicht mit einem erkennbaren antisemitischen Unterton. Man kommt sich als jüdischer Vater fast so vor, als ob ein Teil Deutschlands jüdische Kinder vor ihren Eltern retten müsste. Die Gnadenlosigkeit, die Härte der Debatte ist kontraproduktiv. Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wie.

Die Nazi-Morde in den vergangenen zehn Jahren hatten Muslime zum Opfer. Fühlen Sie sich solidarisch?

Friedman Ich identifiziere mich voll mit den Opfern, weil es sich um Menschen handelt. Es sind Menschen umgebracht worden. Deswegen frage ich als Bürger dieses Landes, warum die Behörden diese kriminellen Taten entweder nicht aufklären konnten oder aufklären wollten, warum im Nachhinein Beweismaterial vernichtet wurde und warum das einige Innenminister, einige Verfassungsschutzpräsidenten und einige Landeskriminalamtschefs angeblich nicht gewusst haben. Was ist das für ein System innerer Sicherheit, das so eklatant versagt? Jeden Tag müssen wir neue Vertuschungstatbestände erfahren, die selbst schon in der Bundesregierung angekommen sind. Es sind da noch einige weitere Rücktritte fällig. Es ist schon schlimm genug, dass wir gewalttätige Nazis in unserem Land haben. Aber wie schlimm ist es, dass ein Teil unserer Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind ist, anscheinend sogar proaktiv am Vertuschen der Wahrheit mitgewirkt hat.

Wie wirkt sich das auf das alltägliche Leben der Juden in Deutschland aus?

Friedman Die Juden sind verunsichert, angespannt und empfinden die jetzige Situation als einen großen Rückschlag.

Gegen diese schlimmen Taten stehen aber viele Menschen im Land auf.

Friedman Die meisten Menschen sind betroffen, wenn sie von Anschlägen auf Minderheiten hören. Aber das ist nicht genug. Solange sie nicht begreifen, dass Judenfeindlichkeit Menschenfeindlichkeit, dass Ausländerfeindlichkeit Menschenfeindlichkeit ist und, da sie Menschen sind, diese Anschläge ihnen gelten, wird es nicht besser.

Nochmal zu denen, die Zivilcourage zeigen: Sind es zu wenige?

Friedman Es gibt in unserem Land viele, viele engagierte Menschen und Initiativen. Leider erfahren sie von der Politik nicht die nötige Unterstützung und werden allein gelassen. In manchen Gegenden gelten sie gar als Nestbeschmutzer.

Etwa in Ostdeutschland?

Friedman Nicht nur. Schlimm ist es auch in NRW, dessen Gebiet eine Hochburg der Nazis war. In vielen Dörfern müssen sich Initiativen gegen Rechtsradikalismus erklären, und die Bürgermeister behaupten, es gebe so etwas in ihrem Dorf oder ihrer Stadt nicht. Und alle wissen, es ist eine Lüge. Noch mal: Die engagierten Nazi-Gegner werden als Nestbeschmutzer beschimpft, nicht aber die gewaltbereiten Nazis.

Gibt es auch ganz normales jüdisches Leben in Deutschland?

Friedman Natürlich gibt es auch normales jüdisches Leben. Aber zu dieser Normalität gehört auch der alltägliche Antisemitismus, die Brutalität im Internet, die Beleidigungen auf der Straße, wenn man eine Kippa trägt. Abgesehen davon: Ich kann diese Frage nach der Normalität nicht mehr hören. Es ist der engagierte Reflex und die Hoffnung, dass alles wieder gut sei. Aber leider ist dem nicht so.

In Deutschland leben viele Araber, Türken und Libanesen, die ihren Hass auf Israel auf die Juden hier übertragen, etwa beim Überfall auf den jüdischen Rabbi in Berlin. Entsteht eine neue Art von Antisemitismus?

Friedman Eindeutig ja. Bei etlichen Migranten aus dem Nahen Osten spielt dieser Konflikt auch hier bei uns eine zentrale Rolle. Manche leben das in einem Antisemitismus aus, der die Juden ebenfalls bedroht. Aber ich wehre mich entschieden gegen jeden Generalverdacht. 90 Prozent aller antisemitischen Vorfälle kommen von der nicht-muslimischen Seite, also von deutschen Christen oder Nichtgläubigen.

Beeinflusst die Situation im Nahen Osten das Leben der Juden hier?

Friedman Den Konflikt mit manchen arabischen und muslimischen Migranten habe ich angesprochen. Hinzu kommt die Verschärfung der Rhetorik im Nahen Osten. Es ist nach dem Zweiten Weltkrieg einzigartig, dass ein Staatschef wie der iranische Präsident Ahmadinedschad ein Land mit seinen Menschen von der Landkarte ausradieren will.

Sind die Gespräche mit dem Iran über eine friedliche Beilegung des Atomkonflikts gescheitert?

Friedman Ja. Und trotzdem: Man darf nie aufhören, einen letzten Versuch eines friedlichen Dialogs zu suchen.

Kanzlerin Merkel hat das Existenzrecht Israels zur deutschen Staatsräson erklärt. Bundespräsident Gauck war da vorsichtiger. Was meinen Sie?

Friedman Mich beeindruckt, wie Angela Merkel sich so mutig und eindeutig für die Unversehrtheit und Belange der jüdischen Menschen einsetzt. Das bringt ihr gewiss keine zusätzlichen Wählerstimmen. In diesem Punkt ist Kanzlerin Merkel sicherlich ein politisches Vorbild.

Martin Kessler und Godehard Uhlemann führten das Gespräch.

(RP/jre/csi)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort