Sozial-Ausgaben steigen Experten warnen vor Bankrott des Sozialstaats

Düsseldorf (RP). Der Staat und die Unternehmen geben 2009 so viel Geld für soziale Leistungen aus wie seit sechs Jahren nicht. Die Ausgaben etwa für Rente, Gesundheit, Pflege, Arbeitslosengeld, Lohnfortzahlung und Familienpolitik steigen um 4,5 Prozent auf 754 Milliarden Euro. Bis 2012 werden sogar 790 Milliarden Euro erreicht. Das geht aus dem Sozialbericht der Bundesregierung hervor, den Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) in Berlin vorstellte.

 Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) hat am Mittwoch den Sozialbericht vorgelegt.

Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) hat am Mittwoch den Sozialbericht vorgelegt.

Foto: ddp, ddp

Mehr als jeder dritte erwirtschaftete Euro wird damit für soziale Leistungen ausgegeben. Die Sozialleistungsquote, Gradmesser für die Umverteilung, wird 2010 mit 32,9 Prozent den Rekord von 1990 erreichen. Scholz begründete den Anstieg mit rezessionsbedingten Ausgaben für Arbeitslosenversicherung und Hartz IV.

 Die Zahlen zu den Sozialausgaben in Deutschland.

Die Zahlen zu den Sozialausgaben in Deutschland.

Foto: Bundesregierung/ Grafik: Jenny Möllmann

Ökonomen sehen die Entwicklung kritisch. "Der Sozialstaat in seiner jetzigen Form ist künftig nicht mehr finanzierbar", sagt Jochen Pimpertz vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft. Ursache sei die Alterung der Gesellschaft. Immer weniger Beschäftigte bezahlen immer mehr Rentner und Transfergeldempfänger. "Weil sich die Politik nicht zu Kürzungen bei den Renten durchringen kann, bleiben nur höhere Beiträge oder Steuern." Die Rentengarantie und die Aussetzung des Renten-Dämpfungsfaktors hätten die Lage verschlechtert, kritisiert Pimpertz. Der Wirtschaftsweise Wolfgang Wiegard ergänzt: "Die heute 30- bis 50-Jährigen werden die Last schultern."

So dürften etwa die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung schon ab 2011 steigen, so Wiegard. Die Rentenbeiträge könnten nur stabil bleiben, wenn der "Rentenanstieg gedämpft wird". Ob die Politik das zulasse, sei sehr fraglich.

Deutschland ist nach Frankreich der zweitgrößte Sozialstaat der Welt. Noch vor klassischen Wohlfahrtsländern wie Schweden und Dänemark. Das geht aus Berechnungen der politisch unverdächtigen Industrieländerorganisation OECD hervor, die erstmals die Nettosozialleistungen — die staatlichen Ausgaben für soziale Zwecke nach Abzug von gleichzeitig einkassierten Steuern und Abgaben — in westlichen Ländern untersucht hat.

Schweden und Dänemark verteilen zwar noch großzügiger Geld, holen sich aber einen beachtlichen Teil über Steuern und Abgaben wieder herein. So muss beispielsweise ein Arbeitsloser in Dänemark selbst vom Arbeitslosengeld Steuern und Sozialbeiträge abführen.

Keine Rede von sozialer Kälte

Der am Mittwoch vorgelegte Sozialbericht der Bundesregierung belegt, dass in der tiefsten Wirtschaftskrise seit 60 Jahren von sozialer Kälte nicht die Rede sein kann. Trotz der Leistungskürzungen für Arbeitslose bei den Hartz-IV-Reformen und Nullrunden für Rentner geben Staat und Unternehmen dieses Jahr 33 Milliarden Euro mehr für "Soziales" aus als 2008.

Doch was heißt das? Zunächst, dass die Umverteilung funktioniert. In der Wirtschaftskrise steigen die von Beschäftigten und Steuerzahlern finanzierten Ausgaben für Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder Kurzarbeit. "Automatische Stabilisatoren" nennen das Experten. Das soziale Netz hält. "Deutschland ist einer der leistungsfähigsten Sozialstaaten der Welt", lobt SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz. Wissenschaftler bestätigen das. "Der Sozialstaat hat sich in der Krise bewährt. Das Umlageverfahren bei Rente, Kranken- und Pflegeversicherung erweist sich als stabil", sagt Gert Wagner, Sozialforscher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW).

Zwar müssen Arbeitslose Einschränkungen hinnehmen, etwa weil sie schon nach einem Jahr Jobsuche Hartz-IV beantragen müssen. Auch Zuzahlungen bei der Krankenversicherung oder Nullrunden bei den Renten haben die Sozialleistungen zwischen 2004 und 2007 kurzfristig sinken lassen. Doch die große Koalition hat in der Krise mehrfach das Füllhorn ausgepackt. Höheres Kindergeld, ein Plus bei Bafög und Wohngeld, mehr Pflege-Leistungen und die außerplanmäßige Rentenerhöhung ließen die Staatsausgaben wieder wachsen. Ökonomen fürchten, dass die Politik, getrieben von impliziter Scheu vor dem Wähler, den Sozialstaat trotz einer alternden Gesellschaft durch neue Wohltaten füttert und so in eine existenzielle Lage bringt. "Dabei ist der Sozialstaat nur finanzierbar, wenn die Politik zu Kürzungen bereit ist", sagt Jochen Pimpertz, Ökonom am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln.

Die Rentenpolitik gilt als Musterbeispiel, wie die politische Ökonomie, das Schielen nach Wählerstimmen, und die tatsächliche Ökonomie, eine rechnerisch faire Lastenverteilung zwischen Beitragszahlern und Rentnern, auseinanderfällt. Dabei sind die Fakten klar: Deutschland altert und schrumpft.

2050 wird jeder dritte Deutsche älter als 65 Jahre sein. Die Rentenbezugsdauer wird bis 2029 dank höherer Lebenserwartung auf durchschnittlich 20 Jahre steigen. Heute finanzieren die Beitragszahler einen Ruheständler zehn Jahre. Doch wenn immer weniger Junge für immer mehr Alte aufkommen, geht das nur mit Rentenkürzungen oder Beitragserhöhungen.

"Die Politik muss zur Rentenformel zurückkehren, die den Rentenanstieg dämpft und notfalls die Renten kürzen lässt, wenn die Löhne sinken. Nur so lässt sich das Wohlstandsniveau halten", sagt Börsch-Supan.

Die Politik dürfte sich nach der Bundestagswahl für einen anderen Weg entscheiden. Fast alle Experten erwarten steigende Beitragssätze und höhere Steuern. "In der Krise bläst der Sozialstaat die Backen auf", sagt Börsch-Supan. "Und danach will dann keiner die Luft rauslassen."

(RP)
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