"Verfassungsgericht kein Ersatz für die Politik" Köhler kritisiert Vielzahl an Verfassungsklagen

Karlsruhe (RPO). Bundespräsident Horst Köhler kritisiert, dass immer mehr politische Fragen höchstrichterlich geklärt werden. Wer etwas nicht erreiche, rufe das Bundesverfassungsgericht an, sagte Köhler am Freitag bei einem Festakt zur Einführung des neuen Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle in Karlsruhe. "Aber das Bundesverfassungsgericht ist nicht gedacht als Ersatz für Politik", fügte das Staatsoberhaupt hinzu.

"Verfassungsgericht kein Ersatz für die Politik": Köhler kritisiert Vielzahl an Verfassungsklagen
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Es sei eine "Anomalie demokratischer Politik", wenn eine im Parlament überstimmte Minderheit versuche, "ihre politische Konzeption via Karlsruhe doch noch zu Gehör oder gar zur Durchsetzung zu bringen, obwohl sie weiß, dass sich die fragliche Mehrheitsentscheidung aller Wahrscheinlichkeit nach in den Grenzen des verfassungsrechtlich Erlaubten hielt", sagte Köhler. Mit jedem Gang nach Karlsruhe gebe die Politik ein wenig Terrain zur selbstständigen Gestaltung auf.

 Andreas Voßkuhle ist der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

Andreas Voßkuhle ist der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

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Diese Entwicklung führe zu einer "Verrechtlichung des Politischen und Politisierung des Rechtlichen, an der uns nicht gelegen sein kann". Auch manche Bürger beschritten lieber den Klageweg, als für ihre Interessen zu koalieren und zu demonstrieren. "Aus alledem spricht eine gewisse Unlust am demokratischen und parteipolitischen Alltag mit seinen vielen Mühen und am Meinungsstreit, der durch demokratische Mehrheit entschieden wird, und zwar nicht immer durch die eigene."

Zudem zeige dies, "dass das Vertrauen in andere Institutionen als das Bundesverfassungsgericht zurückgegangen ist". Die politischen Parteien, die Parlamente und die Regierungen hätten viel von ihrem Ansehen verloren.

Köhler spricht Trichet Vertrauen aus

Köhler ermahnte das Bundesverfassungsgericht zugleich indirekt zu europafreundlicher Rechtsprechung. Um den "Teufelskreis der immer größeren Finanzkrisen" durchbrechen zu können, "brauchen wir für bestimmte Fragen mehr Europa, nicht weniger", betonte Köhler, und fügte abweichend vom Manuskript hinzu: "Das sage ich bewusst hier in Karlsruhe". Das Verfassungsgericht hatte mehrfach betont, dass eine zu weit gehende europäische Integration nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei.

Der Bundespräsident mahnte zu entschlossenem Handeln in der aktuellen Währungskrise. "Die Ursachen der Krise - anarchische Finanzmärkte, überschuldete öffentliche Haushalte und das Durcheinander der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken müssen in Ordnung gebracht werden", sagte er. Die von der EU beschlossenen Kreditermächtigungen in Höhe von 750 Milliarden Euro bezeichnete Köhler, der bis 2004 Chef des Internationalen Währungsfonds war, als richtig.

Die Deutschen seien dabei "weder die Zahlmeister noch die Deppen Europas", fügte er hinzu. Vielmehr trage Deutschland nur den Anteil, der seiner Größe und volkswirtschaftlichen Leistungskraft entspreche. Dem EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet sprach Köhler ganz persönlich das Vertrauen aus. Er sei ein "Garant für die Stabilität unserer Währung".

Bundeskanzlerin Angela Merkel unterstützte in ihrem kurzen Grußwort Köhlers europapolitischen Vorstoß ausdrücklich: "Zur Vertiefung der europäischen Integration gibt es keine Alternative, wenn man nicht zurückfallen will."

Der bisherige Gerichtspräsident Hans-Jürgen Papier forderte vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mehr Zurückhaltung. Wenn ein Fall von nationalen Verfassungsgerichten bereits ausreichend geprüft wurde, bedürfe es "keiner erneuten Detailprüfung durch die internationale Gerichtsbarkeit", sagte er. Papier war seit 2002 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Sein 46 Jahre alter Nachfolger Voßkuhle, der bisher Vizepräsident war, ist der jüngste Präsident, den das Bundesverfassungsgericht je hatte.

(apd/awei)
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