Analyse Du sollst den Kern nicht spalten

Gastbeitrag Vor sechs Jahren erlebte Japan drei Katastrophen: Erdbeben, Tsunami und atomarer Super-Gau. Der Kraftwerkbetreiber rechnet mit bis zu 40 Jahren Aufräumarbeiten. Auch das Schicksal der Helfer ist eine Tragödie. Trotzdem will die Regierung am Atomstrom festhalten.

Es war eine dreifache Katastrophe: Erdbeben, Tsunami, atomarer Super-Gau. Als Folge der Nuklearkatastrophe von Fuku-shima am 11. März 2011 mussten 180.000 Menschen, die im 20-Kilometer-Umkreis der Kraftwerk-Blöcke lebten, umgesiedelt werden. Nur knapp die Hälfte konnte bis heute zurückkehren. Erst vor wenigen Tagen wurde am havarierten Reaktor in Fukushima die höchste radioaktive Strahlendosis gemessen - 650 Sievert pro Stunde. Viele Junge sind für immer weggezogen.

Dabei hatte das Land noch Glück im Unglück, weil der Wind vom havarierten Akw aus nicht in Richtung Fukushima-City und auch nicht in Richtung Großraum Tokio wehte, wo über 50 Millionen Menschen wohnen, sondern ins Meer hinaus. Spätestens jetzt hätte die Welt lernen können, dass Atomkraft Russisch Roulette bedeutet.

Vor Kurzem hat mich der Bürgermeister von Fukushima zu einem Vortrag eingeladen. Ich soll zum Thema sprechen: "Vom Atomzeitalter ins Solarzeitalter". Zuvor hatte ich zu diesem Thema in Hiroshima und Nagasaki geredet. Die Japaner wollen von einem Deutschen wissen, welche Erfahrungen wir mit dem Atomausstieg gemacht haben. 500 Bürgermeister waren gekommen.

Die Fukushima-Schäden werden bisher auf weit über 100 Milliarden Dollar geschätzt. 120.000 Gebäude wurden zerstört. 15 Prozent der Umgesiedelten sind krank, berichten von Angstzuständen, Schuldgefühlen und Depressionen. Das Schlimmste sind die psychischen Folgen. Die radioaktive Verseuchung breitet sich noch weiter aus. Die Betreiber-Firma Tepco rechnet noch mit weiteren 30 bis 40 Jahren Aufräumarbeiten. Sechs Jahre nach der Katastrophe sind täglich bis zu 7000 Menschen im Einsatz, bisher insgesamt um die 50.000. Noch immer sind die geschmolzenen Reaktorkerne nicht gefunden. Die tödliche Strahlung macht eine Annäherung unmöglich.

Das Schicksal der in Fukushima eingesetzten Helfer ist eine Tragödie. Überwiegend werden Arbeitslose, Obdachlose und Hilfsarbeiter rekrutiert. Ihre Arbeitseinsätze sind wegen der hohen Strahlenbelastung oft nur kurz. Danach werden sie entlassen. Obwohl ihnen die hundert- bis hundertfünfzigfache Strahlendosis gegenüber der offiziell zugelassenen zugemutet wurde, kümmert sich niemand um sie. Insider berichten, dass viele dieser Arbeiter kurz nach ihrem Einsatz krank werden und sterben. Offiziell werden diese Krankheits- und Todesfälle bestritten.

Ein Forscherteam von Greenpeace hat 2016 als Folge der Reaktorkatastrophe bei vielen Tieren und Pflanzen Mutationen festgestellt. Schilddrüsenerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen sind um 20 bis 30 mal höher als vor der Reaktorkatastrophe oder als in nichtverstrahlten Regionen Japans, erzählt mir ein Arzt.

Doch Japans Ministerpräsident Abe sagt: "Die Lage ist unter Kontrolle." Anderes kann er kaum sagen, denn er will die 51 noch immer stillgelegten Akw wieder ans Netz bringen. Aber zwischen 70 und 80 Prozent der Japaner sind heute gegen Atomkraft. Nur noch 0,9 Prozent des japanischen Stroms wird zurzeit aus drei Atomkraftwerken erzeugt. Der Strom von 13 Akw wurde schlicht eingespart. Solaranlagen ersetzen während der sommerlichen Stromlastspitze bereits mehr als zehn Akw.

Viel Zustimmung bekomme ich bei meinen Vortrag für diesen Satz: "Ohne Akw keine Atombombe. Und solange es Atombomben gibt, besteht die Gefahr von Atomkriegen. Ein Atomkrieg wäre der letzte Krieg in der Geschichte der Menschheit." In Japan wird dieser Zusammenhang besser verstanden als sonst wo auf der Welt. Hiroshima, Nagasaki, Fukushima - wenn wir überleben wollen, werden wir ein elftes Gebot lernen müssen: Du sollst den Kern nicht spalten!

(RP)
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