Berlin "In der deutschen Geschichte ist viel gelungen"

Berlin · Der Historiker Heinrich August Winkler hielt eine bewegende Rede zum Kriegsende. Nachgeborene hätten keinen Grund für Schuldgefühle.

Mit einer 40-minütigen Rede im Bundestag hat der Historiker Heinrich August Winkler des Endes des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945 gedacht. Vor Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundespräsident Joachim Gauck und den Mitgliedern des Bundestags und Bundesrates erinnerte er an die Folgen der nationalsozialistischen Diktatur. Der 76-Jährige lehrte bis 2007 als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Winklers Rede in gekürzter Form: "In der deutschen Geschichte gibt es keine tiefere Zäsur als den Tag, dessen siebzigster Wiederkehr wir heute gedenken: den 8. Mai 1945. Er markiert das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, das diesen Krieg entfesselt hatte, und das Ende des ein Dreivierteljahrhundert zuvor von Bismarck gegründeten Deutschen Reiches. Der deutsche Philosoph Ernst Cassirer, der im April 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, im amerikanischen Exil starb, deutete in seiner letzten Schrift ,Der Mythus des Staates' Hitlers politische Karriere als Triumph des Mythos über die Vernunft und diesen Triumph als Folge einer tiefen Krise. Angesichts von Ausbrüchen der Fremdenfeindschaft, wie wir sie in Deutschland in den letzten Monaten erlebt haben, und von antisemitischer Hetze und Gewalt hier und in anderen europäischen Ländern sind die Worte Cassirers von geradezu beklemmender Aktualität. Sie mahnen uns, zu jeder Zeit die eigentliche Lehre der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 zu beherzigen: die Verpflichtung, unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten. Seine Einheit erlangte Deutschland 1990 nur wieder, weil es glaubwürdig mit jenen Teilen seiner politischen Tradition gebrochen hatte, die der Entwicklung einer freiheitlichen Demokratie westlicher Prägung entgegenstanden. Abgeschlossen ist die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht, und sie wird es auch niemals sein. Jede Generation wird ihren eigenen Zugang zum Verständnis einer so widerspruchsvollen Geschichte wie der deutschen suchen. Es gibt vieles Gelungene in dieser Geschichte, nicht zuletzt in der Zeit nach 1945, über das sich die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland freuen und worauf sie stolz sein können. Aber die Aneignung dieser Geschichte muss auch die Bereitschaft einschließen, sich den dunklen Seiten der Vergangenheit zu stellen. Niemand erwartet von den Nachgeborenen, dass sie sich schuldig fühlen angesichts von Taten, die lange vor ihrer Geburt von Deutschen im Namen Deutschlands begangen wurden. Zur Verantwortung für das eigene Land gehört aber immer auch der Wille, sich der Geschichte dieses Landes im Ganzen bewusst zu werden. Das gilt für alle Deutschen, ob ihre Vorfahren vor 1945 in Deutschland lebten oder erst später hier eingewandert sind. Und es gilt für die, die sich entschlossen haben oder noch entschließen werden, Deutsche zu werden. Es gibt keine moralische Rechtfertigung dafür, die Erinnerung an solche Untaten in Deutschland nicht wachzuhalten und die moralischen Verpflichtungen zu vergessen, die sich daraus ergeben. Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen. Neben dem Vergessen gibt es freilich auch noch eine andere Gefahr im Umgang mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte: eine forcierte Aktualisierung zu politischen Zwecken. Wenn Deutschland sich an Versuchen der Völkergemeinschaft beteiligt, einen drohenden Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern, bedarf es nicht der Berufung auf Auschwitz. Auf der anderen Seite lässt sich weder aus dem Holocaust noch aus anderen nationalsozialistischen Verbrechen noch aus dem Zweiten Weltkrieg insgesamt ein deutsches Recht auf Wegsehen ableiten. Das Jahr 2014 markiert eine tiefe Zäsur: Durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim ist die Gültigkeit der Prinzipien der Charta von Paris radikal in Frage gestellt - und mit ihr die europäische Friedensordnung, auf die sich die einstigen Kontrahenten des Kalten Krieges damals verständigt hatten. Deutschland hat während des immer noch andauernden Konflikts um die Ukraine alles getan, was in seinen Kräften steht, um den Zusammenhalt der Europäischen Union und des atlantischen Bündnisses zu sichern. Es hat sich zugleich in enger Abstimmung mit seinen Verbündeten darum bemüht, im Dialog mit Russland so viel wie möglich von jener Politik der konstruktiven Zusammenarbeit zu retten oder wiederherzustellen, auf die sich Ost und West nach dem Ende des Kalten Krieges verständigt hatten. Nie wieder dürfen unsere ostmitteleuropäischen Nachbarn, die 1939/40 Opfer der deutsch-sowjetischen Doppelaggression im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes wurden und die heute unsere Partner in der Europäischen Union im atlantischen Bündnis sind - nie wieder dürfen Polen und die baltischen Republiken den Eindruck gewinnen, als werde zwischen Berlin und Moskau irgendetwas über ihre Köpfe hinweg und auf ihre Kosten entschieden. Dem wiedervereinigten Deutschland fällt innerhalb der EU schon aufgrund seiner Bevölkerungszahl und seiner Wirtschaftskraft eine besondere Verantwortung für den Zusammenhalt und die Weiterentwicklung dieser supranationalen Gemeinschaft zu. Dazu kommt die Verantwortung, die sich aus der deutschen Geschichte ergibt. Es ist eine an Höhen und Tiefen reiche Geschichte, die nicht aufgeht in den Jahren 1933 bis 1945 und die auch nicht zwangsläufig auf die Machtübertragung an Hitler hingeführt, wohl aber dieses Ereignis und seine Folgen ermöglicht hat. Sich dieser Geschichte zu stellen, ist beides: ein europäischer Imperativ und das Gebot eines aufgeklärten Patriotismus."

Die volle Version gibt es unter www.rp-online.de/winkler-rede

(dpa/RP)
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