Istanbul Türkische Verfassungsrichter bieten Erdogan die Stirn

Istanbul · Die Justiz ist die wahre Opposition in Ankara, weil die mächtige Kontrollinstanz die Regierung effektiv in die Schranken weist.

Von Thomas Seibert

Das türkische Verfassungsgericht bremst Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan: Nach der Entscheidung zur Freigabe des gesperrten Internet-Kurznachrichtendienstes Twitter vergangene Woche ärgerte das Gericht die Regierung gestern, indem es kürzlich eingeführte Machtbefugnisse des Justizministeriums bei der Richter-Bestellung für verfassungswidrig erklärte. Damit übernimmt das Gericht immer mehr Aufgaben bei der Kontrolle über die Regierung, zu denen die schwache Opposition im Parlament nicht in der Lage ist.

Mit der Entscheidung verwarfen die Verfassungsrichter wichtige Teile einer Justizreform, die zum Vorgehen der Regierung gegen angebliche Feinde im Staatsapparat gehört. Nach Bekanntwerden der Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung im Dezember hatte Erdogan mehrere Tausend Polizisten, Richter und Staatsanwälte versetzen lassen, weil sie der Regierung als Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen erschienen; Erdogan sieht die Korruptionsvorwürfe als Komplott Gülens.

Die jetzt verworfene Justizreform gab der Regierung mehr Einfluss auf die Ernennung von Richtern und auf Ermittlungen gegen unliebsame Staatsanwälte. Kritiker und auch die EU hatten dies als Eingriff in die Gewaltenteilung gebrandmarkt. Das Verfassungsgericht gab nun einer Klage der Oppositionspartei CHP gegen die Neuregelung statt.

Parteifreunde Erdogans erklärten wie schon nach dem Twitter-Urteil, man müsse die Entscheidung umsetzen, man respektiere sie aber nicht. Erdogan-Kritiker begrüßten das Urteil dagegen als Beitrag zur Erhaltung demokratischer Grundsätze angesichts der Versuche der Regierung, ihre Macht immer mehr auszuweiten.

Erdogans Regierung selbst hatte mit einer Reform vor vier Jahren die Befugnisse des Verfassungsgerichts erweitert. Damals wurde die Zahl der Richter am höchsten Gericht erhöht, zudem wurde das Recht auf Verfassungsklagen durch Einzelbürger eingeführt – eine davon führte zur Freigabe von Twitter.

Gerichtspräsident Hasim Kilic betonte nach der Twitter-Entscheidung, das Gericht stütze sich auf europäische Rechtsnormen – und die kollidieren mit Erdogans Interessen. Ein Parteifreund Erdogans erhob Verfassungsklage, um Twitter erneut sperren zu lassen. Das Gericht konterte auf seine Weise: Es eröffnete sein erstes eigenes Twitter-Konto.

(RP)
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