Proteste in der Ukraine Klitschkos Kampf in der "Hölle" von Kiew

Kiew · Nach dem Tod von Demonstranten soll das ukrainische Parlament über den Rücktritt der Regierung entscheiden. Der frühere Boxweltmeister ruft zu Besonnenheit auf. In einem besetzten Gebäude hat die Opposition ein provisorisches Lazarett eingerichtet.

Angriff auf Klitschko in der Ukraine
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In eisiger Kälte reißen antirussische Kräfte in Kiew Pflastersteine aus dem Straßenbelag. Sie rüsten sich für neue Straßenschlachten gegen die ukrainischen Milizen. Schwarzer Rauch von brennenden Autoreifen verpestet die Luft. Auch Brände an Gebäuden haben ihre Spuren hinterlassen. Das schon seit zwei Monaten immer wieder von Straßenkämpfen erschütterte Zentrum der Millionenstadt stellt sich auf einen langen Machtkampf ein.

"Es ist die Hölle. Die rote Linie ist überschritten." So lesen sich die Schlagzeilen in Kiews Zeitungen am Tag nach der Schlacht, der etwas Ruhe bringen soll. Nach den tödlichen Schüssen auf Regierungsgegner hat das prorussische Machtlager ein Einlenken signalisiert. Parlamentspräsident Wladimir Rybak kündigte eine Sondersitzung an, in der auch über den Rücktritt von Regierungschef Nikolai Asarow entschieden werden soll. Präsident Viktor Janukowitsch setzte sich mit führenden Regierungsgegnern zusammen. Danach zeigte sich die Opposition vorsichtig optimistisch.

Deren Anführer Vitali Klitschko forderte die Sicherheitskräfte auf, den "Terror gegen das Volk" einzustellen. "Es ist furchtbar. Wir sollten alles tun, was uns möglich ist, damit es keine weiteren Toten gibt", sagte Klitschko. Doch die zersplitterte Opposition, die aus prowestlichen Kräften um Klitschko sowie unkontrollierten gewaltbereiten Ultranationalisten besteht, will sich der Polizeigewalt nicht beugen. Regierungsgegner sprechen von fünf Erschossenen sowie zwei weiteren Toten. Das Innenministerium bestätigte den Tod zweier Demonstranten durch Schüsse.

Im dritten Stock des von der Opposition besetzten Gewerkschaftshauses am Kiewer Unabhängigkeitsplatz haben Ärzte und Krankenschwestern einen medizinischen Versorgungspunkt eingerichtet. Immer mehr verletzte Demonstranten lassen sich hier behandeln. Sie haben Angst, sich in ein offizielles Krankenhaus zu begeben. Dort laufen sie Gefahr, von der Bereitschaftspolizei "Berkut" ("Steinadler") entführt und misshandelt zu werden.

Auf den Fluren des Gewerkschaftshauses, dem provisorischen Lazarett, türmen sich derweil gespendetes Verbandszeug und Medikamente. Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger haben sich als Freiwillige gemeldet, um hier Dienst zu tun. Es gibt mehrere Behandlungszimmer und sogar einen improvisierten Operationsraum. Überall warten bereits Verletzte. Manche husten von dem Tränengas, das die Polizei einsetzt. Andere haben Verletzungen und riesige Blutergüsse im Gesicht.

In dem Chaos und Gewusel behält die junge Ärztin Irina (23) die Nerven. Sie ist schmächtig, hat große braune Augen und trägt auf der Stirn eine Bergarbeiter-Lampe mit Gummiband, weil das Licht für die Untersuchungen nicht reicht. "Wir desinfizieren Wunden, kümmern uns um Verbrennungen, Quetschungen, Splitterwunden — alle möglichen Folgen der Krach- und Blendgranaten, die die Polizei einsetzt." An die Ärzte in den staatlichen Krankenhäusern sei ein Befehl ergangen: Fälle von Verletzungen, die bei den Demonstranten üblich seien, müssten der Polizei gemeldet werden. "Die Polizisten holen dann selbst schwer verletzte Patienten aus dem Krankenhaus und bringen sie ins Untersuchungsgefängnis", sagt Irina. Ihr Kollege Oleg (53) hat mehr als 20 Jahre Erfahrung als Notarzt. "Wenn die Regierung erklärt, die Polizei setze keine Schusswaffen ein, dann lügt sie", sagt er klipp und klar. Die Polizei feuere Gummikugeln und Gummischrot, ziele dabei direkt auf die Köpfe und die Augen der Demonstranten.

Kaum hat er es gesagt, laufen die Sanitäter wieder mit ihren olivgrünen Militärtragen nach draußen.

(RP)
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