Analyse Wie Auschwitz die Politik bestimmt

Düsseldorf · Bundeskanzlerin Merkel ging weit, als sie sagte, die Sicherheit Israels gehöre zur deutschen Staatsräson. Auch Deutschland lieferte Israels Feinden Waffen. Innenpolitisch herrscht Konsens: Jeder NS-Nostalgiker ist unten durch.

Die Tage und Stunden der mahnenden Erinnerung, der erschütternden Treffen mit den wenigen, uralten Zeit- und Leidenszeugen des KZ-Horrors sind wieder vorbei, ebenso das feierliche Staatsgedenken an das Vernichtungs-Grauen mit der eingebrannten Todes-Chiffre "Auschwitz".

Sind die Tage und Stunden nun auch verweht? Eine Mehrheit der Deutschen hofft, dass es so sein möge. Von beinahe kollektivem deutschen Abwinken war jetzt zu lesen, und diese Grundstimmung ist zu spüren sowie weit verbreitet: Politiker, Präsidenten, lasst uns endlich mit Auschwitz in Ruhe. Und wenn ihr schon die Schuldkeule über unseren Köpfen schwingt, schwingt sie bitte auch wegen der vielen Ungeheuerlichkeiten, die sich andere Völker im Laufe ihrer Geschichte geleistet haben. Das ist Schuld- und Schamverarbeitung made in Germany durch den vermeintlich sich selbst entlastenden Fingerzeig auf Dritte, die es nach Meinung der Verdränger doch im Laufe ihrer Geschichte ähnlich oder genauso fürchterlich getrieben haben wie Nazi-Deutschland.

Psychologisch kann man das Vergessen- und Verdrängenwollen erklären. Kein Mensch, nicht einmal der abgefeimteste Mordgeselle, lässt sich gerne ein Leben lang mit dem moralischen Tiefpunkt seines Daseins konfrontieren. Das gleiche gilt für Völker, natürlich auch für das deutsche Volk, bei dem der ohnehin unter Menschen stets nur hauchdünne Firnis von Humanität und Zivilisation für schreckliche zwölf Nazi-Jahre zerrissen war. Ein bis heute nicht wirklich zu begreifender Abstieg und Höllensturz eines Kulturvolkes.

Ob es künftige andere, noch grauenvollere Deformationen des Menschlichen geben wird? Irgendwo auf der Welt mit Sicherheit. Aber für uns Deutsche bleibt "Auschwitz" doch wohl eine einmalige ideologische, rassistische Untat, "die Untat schlechthin", wie Rudolf Augstein einst schrieb. Der 2002 verstorbene "Spiegel"-Gründer schrieb aber auch dies: "Wenn Ausschwitz den Deutschen wie den Juden einmalig und wichtig bleiben soll, dann darf es nicht in kleiner Münze und mit der Narrenpritsche unters Volk gestreut werden." Augstein bezog sich auf einen legendären Kommentar des Starkolumnisten William Safire in der "New York Times". Safire hielt seinerzeit in den späten 80er Jahren uns Deutschen vor, wir beförderten ein "Auschwitz in the sand", indem wir Libyens Wüsten-Dikator Gaddafi ("Der verrückte Hund im Nahen Osten", US-Präsident Ronald Reagan) Giftgasfabriken errichteten, deren todbringende Produkte Gaddafi gegen die Juden in Israel einsetzen wolle.

In anderem Zusammenhang - anlässlich einer Reise von Bundeskanzler Helmut Kohl nach Israel im Jahre 1984 - entschlüpfte dem zur Schnoddrigkeit neigenden Regierungssprecher Peter Boenisch ein fataler Satz, den ein israelischer Botschaft als ekelerregend empfand: Die deutsche Politik, so Kohls Sprecher, dürfe Auschwitz nicht vergessen, aber sie dürfe Auschwitz auch nicht für Tagespolitik instrumentalisieren lassen. Boenisch sprach an, was deutsche Politik zum Beispiel beim Streit um Waffenlieferungen an die Feinde Israels wie etwa Saudi-Arabien praktizierte. Hier konkurrierte das "Auschwitz nie vergessen" mit der Formel "Geld stinkt nicht" und der Entschuldigung "Wenn wir keine Waffen liefern, tun es andere".

Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974-1982) ging sogar noch einen Schritt weiter, was selbstbewusstes Auftreten und die Bereitschaft zum Affront gegenüber dem Staat der Juden betrifft: Er weigerte sich, Israel zu besuchen, solange dessen umstrittener Premier Menachem Begin im Amt war. Begin hatte den Wehrmachtsoffizier Helmut Schmidt in die Nähe von Hitler-Schergen gerückt.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederum hat erstmals 2008 sich und die deutsche Politik außenpolitisch weitreichend festgelegt, als sie in der Jerusalemer Knesset ihr Credo sprach: "Die Sicherheit Israels gehört zur deutschen Staatsräson." In der Konsequenz hieße das militärischen Beistand für die Fortexistenz des Staates der Juden im Konflikt- oder gar Kriegsfall, Motto: "Sterben für Jerusalem". Im Jahr 2012 rückte Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner ersten Israel-Visite von Merkels Staatsräson-Formel ab, weil er sie, wohl im Einklang mit einem Großteil seiner deutschen Landsleute, für allzu gewagt hielt.

Es gab und gibt eine bundesrepublikanische Grundeinstellung, die nach Auschwitz jeglichen Militäreinsatz deutscher Soldaten auf fremdem Terrain für falsch hält und bis heute strikt ablehnt. Es war Bundesaußenminister Joschka Fischer (1998-2005), der 1999 in einem berühmten politischen Schwenk den Spieß umdrehte. Gerade Auschwitz, gerade dieser von Deutschen beschrittene Abgrund an Unmenschlichkeit erteile den Deutschen einen moralischen Marsch-Befehl, dem Menschenschlachten im Kosovo mit Waffengewalt Einhalt zu gebieten: "Ich habe nicht nur gelernt: nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: nie wieder Auschwitz." Deutsche Soldaten waren vor 16 Jahren erstmals seit 1945 wieder im Krieg.

Als es jedoch 2011 beispielsweise um den Stopp des staatlich befohlenen Mordens in Libyen ging, signalisierte die deutsche Politik wieder wie einst in den ersten Jahrzehnten Bonner Außenpolitik der kampfbereiten Welt: Hannemann, geh du voran. Das trug Außenminister Guido Westerwelle, der sich im UN-Sicherheitsrat mit Russland, China, Indien, Brasilien der Stimme enthalten hatte, im Kreis der Verbündeten viel Spott und auch Verachtung ein.

Innenpolitisch sind die Lehren aus Auschwitz für die Politik konsequent gezogen worden. Über allem steht Artikel 1 des Grundgesetzes, von keiner Parlamentsmehrheit veränderbar: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Wer immer sich bei uns als NS-Nostalgiker hervortut, ist bis auf die Knochen blamiert. Die NPD steht unter Verbots-Drohung. Das öffentliche Hervorzeigen von NS-Symbolik wird bestraft. Und wenn der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel über den ehemaligen Dresdner "Pegida"-Anführer Lutz Bachmann wegen dessen "Adolf Hitler"-Looks im Internet sagt: "entweder ein Idiot oder ein Nazi" - dann raunen die meisten Deutschen im Wissen um Auschwitz: Wieso Idiot oder Nazi? Ist das nicht dasselbe?

(RP)
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