Stephan Grünewald "Wir sind zu stark in unserer Angst vor der Zukunft gefangen"

Der Psychologe des Marktforschungs-Instituts Rheingold über die gesellschaftlichen Befindlichkeiten, die 2015 dominieren könnten.

Wie würden Sie die allgemeine Grundstimmung bewerten?

Stephan Grünewald Dieses bald abgelaufene Jahr hat starke Spuren in der Seele vieler Menschen hinterlassen. Es war von ungewöhnlich vielen Krisen überschattet - etwa dem Ukraine-Konflikt, dem IS-Terror und der Ebola-Epidemie. Hierzulande entsteht dadurch der Eindruck, in einem der letzten Paradiese zu leben - das allerdings zunehmend bedroht wird. Die meisten Menschen fürchten, die Zukunft kann nur schlimmer werden, und wollen den paradiesischen Zustand möglichst lange erhalten. Es herrscht also eine Sehnsucht nach permanenter Gegenwart. Niemand verkörpert diese Sehnsucht mehr als Angela Merkel. Sie signalisiert vor allem, Besitzstände zu sichern.

Blicken die Menschen eher zufrieden oder eher besorgt ins neue Jahr?

Grünewald Eher besorgt. Ein Nebeneffekt der Krisen manifestiert sich in dem Gefühl, allem ohnmächtig ausgesetzt zu sein. Aus dem Wunsch, aktiv zu werden, entstehen dann Bewegungen wie "Pegida", bei der die Ohnmacht auf die Flüchtlinge gelenkt wird. An dieser Gemengelage wird sich auch 2015 nichts ändern. Meiner Ansicht nach verwandelt sich die Bundesrepublik in eine Goretex-Republik. Durch deren semipermeable Haut soll idealerweise das Gute aus Deutschland nach außen dringen - und uns zu Reise- und Exportweltmeistern machen. Aber das Klamme und Kranke, also etwa die Flüchtlinge aus Krisengebieten, darf nicht einsickern.

Gibt es Entwicklungen, die Sie wirklich beunruhigen?

Grünewald Dazu gehört sicher "Pegida". Ich sehe die Gefahr einer Parallelgesellschaft heranziehen, die sich in die bürgerliche Gemeinschaft nicht mehr eingliedern lässt. Insgesamt ist die Problemlage so überkomplex, dass sie intellektuell schwer zu bewältigen ist. Viele stecken den Kopf daher in den Sand. In unseren Interviews stellen wir zum Beispiel eine deutliche Zunahme an Ressentiments fest. Ich habe Stimmen zu Ausländern, Islamisierung, aber auch zum Thema Hartz IV gehört, die habe ich in der Drastik in den vergangenen 20 Jahren nicht vernommen. Es entsteht eine zunehmende Unduldsamkeit.

Gibt es denn auch Gründe, optimistisch in die Zukunft zu schauen?

Grünewald Natürlich. Wir sind alle zu stark in unserer vorsorglichen Angst gefangen. Denken Sie an die Fußball-WM. Die Mannschaft hat gezeigt, wie es gehen kann, hat Erfindungsreichtum bewiesen, ist füreinander eingestanden, hat den Integrationsgedanken gelebt. Wir besitzen das Potenzial, schlechte Zeiten zu überstehen. Darauf müssen wir uns besinnen.

J. ISRINGHAUS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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