Birmingham Die Maestra

Birmingham · Erstmals bekommt ein internationales Spitzenorchester eine Chefdirigentin. Mirga Grazinyte-Tyla wird im Herbst Musikdirektorin beim City of Birmingham Symphony Orchestra. Dort beerbt die 29-Jährige Andris Nelsons.

Manche Orchester riskieren nie Neues, die Wiener Philharmoniker zum Beispiel. Dort will keiner das Rad neu erfinden, es rollt ja rund - Staatsoper, Neujahrskonzert, Tourneen, ausgebuchte Abos, was will man mehr? Andere Orchester leben mit der Zeit und der Veränderung. Das City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO) zum Beispiel: Es holte vor einigen Jahren den unbekannten Letten Andris Nelsons, der war Chefdirigent in Herford. Das CBSO, eines der besten Orchester der Welt, machte ihn zum Boss. In Wien wäre das unmöglich, in Berlin auch und eigentlich bei fast jedem großen Orchester. Nur nicht in Birmingham. Die hatten auch den unbekannten Simon Rattle engagiert und damit an die Weltspitze katapultiert. Nelsons ist jetzt Chef beim Boston Symphony Orchestra und dirigiert in Bayreuth.

Jetzt hat das CBSO abermals am Rad gedreht und noch zukunftsweisender gedacht. Als erstes Spitzenorchester hat es eine Frau zur Chefin gekürt: Mirga Grazinyte-Tyla. Diesen Namen sollten wir uns merken. Die Litauerin wird 30 Jahre alt sein, wenn sie im September Nelsons am Pult in Birmingham beerbt. Und sie wird womöglich die besten Voraussetzungen mitbringen, die Dirigenten haben können: Sie spielt kein Orchesterinstrument. Sie ist Chordirigentin, eine Disziplin, die sie mit 13 Jahren lernte. Ein Phänomen. Sie kennt die Situation, allein vor vielen zu stehen, aus ihren Kindertagen. In Litauen kann man Dirigieren an der Musikschule lernen.

Kann so jemand ein Orchester befehligen und trotzdem mit den Musikern auf Augenhöhe reden? Selbstverständlich. Die zarte Musikerin, die das Gegenteil des Mannweibs ist, spricht fließend Deutsch, seit sie in Graz, Zürich und Leipzig studierte. Berührungsängste bei Hörnern, Violinen oder Oboen hat sie nicht. Sie ist eine Musikerin, die sich jede Stimme als eine gesungene vorstellt, vom Atem beseelt. Damit zieht sie alle Orchester in ihren Bann, und tatsächlich hat ihr noch keines widerstehen können.

International machte Mirga Grazinyte-Tyla 2012 auf sich aufmerksam, als sie bei den Salzburger Festspielen mit dem begehrten "Salzburg Festival Young Conductors Award" ausgezeichnet wurde, der ihr eine Zusammenarbeit mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester ermöglichte. Dann überwältigte sie, als sie beim Los Angeles Philharmonic Orchestra einsprang. Danach wurde sie sogleich Assistant Conductor des Orchesters. Assistentin von Gustavo Dudamel. Wow! Zwischendurch war sie Kapellmeisterin in Heidelberg und Bern, und da haben sie von ihr geschwärmt, als hätten sie die Offenbarung erlebt.

Wer sich mit Grazinyte-Tyla unterhält, staunt abermals, wie sie sich den Weg ans Dirigentenpult gebahnt hat. Sie wurde als Kind einer Musikerfamilie in Vilnius geboren; zunächst malte sie gerne, aber dann wollte auch sie Musik machen, sie wollte dirigieren. Der Weg an der Musikschule von Vilnius war klar gegliedert: "Zuerst singt man viel im Chor, hat aber viel Musiktheorie - und tatsächlich mit dreizehn Jahren fängt man mit Dirigieren an. Zunächst geht es nur um die Hände, wie man sie bewegt und koordiniert, wie man Rhythmus- und Tempogefühl entwickelt. Erst mit 15, 16 Jahren fängt man an, praktisch mit Chören zu arbeiten."

Später kamen zu den Chören die Orchester dazu. Den ungewöhnlichen Einstieg in den Beruf empfindet Grazinyte-Tyla nicht als Nachteil. "Wenn man den großen Bogen singend in sich trägt, kann man jeden Klangkörper dirigieren." Mittlerweile spielt sie einige Instrumente eher leidlich, das genügt ihr. "Relativ lange habe ich das als Hemmnis empfunden, dass ich kein Instrument so richtig virtuos beherrsche, und ich glaubte immer, das müsste ich, um mit einem Orchester gut proben zu können. Mittlerweile habe ich mich davon befreit, weil jeder Weg zum Ziel führen kann." Und so singt sie dem Orchester wieder vor, wie sie sich eine Stimme, eine Linie, eine Phrase vorstellt.

Nun also Birmingham, zunächst für drei Jahre. Chorleitung hat sie übrigens nicht verlernt. Im Internet gibt es ein Video ihres Adventskonzerts mit dem Chor des Bayerischen Rundfunks, und man staunt, was sie kann. Wie sie alles beherrscht. Wie sie mitsingt, atmet, fühlt, alles beschwingt, befeuert. Wir werden von ihr noch viel hören.

(w.g.)
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