Serie Pape Läuft (folge 22) Am Dom brechen alle Dämme

Erkelenz · Nach 4:20,34 Stunden erreicht Marathon-Novize Christian Pape das Ziel des Köln-Marathons an der Komödienstraße mit Blick auf den Kölner Dom.

 Geschafft: Nach 42,195 Kilometer kreuz und quer durch Köln hat es Christian Pape geschafft. Er ist jetzt ein echter Marathoni.

Geschafft: Nach 42,195 Kilometer kreuz und quer durch Köln hat es Christian Pape geschafft. Er ist jetzt ein echter Marathoni.

Foto: DIRK JANSEN/MANUS SINISTER

WEGBERG Es ist 3 Uhr nachts. Ich liege im Bett. Meine Blase drückt und flüstert mir höhnisch zu: "Auf, auf, Marathoni, ich will die Keramik sehen!" Die brennenden Waden entgegnen stöhnend: "Bleib liegen, Old Boy. Wir haben uns ein bisschen Ruhe und Erholung verdient!" Mein Kopf rauscht. Adrenalin sprudelt durch meinen Körper. Mir geht es erstaunlich gut. Ich bin ausgepowert, aber glücklich. An Schlaf ist nicht zu denken. Mein Leben ist um eine aufregende Erfahrung reicher. Aber der Reihe nach...

Samstag, 17 Uhr, der Abend vor dem Marathon. Nicole und Michael Heckers haben zum Pasta-Essen zu sich nach Hause eingeladen. Die Familie meines Physiotherapeuten Frank Hanswillemenke, dem es tatsächlich gelungen ist, kurz vor dem Wettkampf noch die hartnäckigen Entzündungen aus meinem Körper zu kneten, die Heckers und wir, die Papes. Eine leichte Knoblauchfahne weht sanft über den endlos scheinenden Esstisch. Herrliche Leckereien. Kohlenhydrate pur. Die Stimmung ist ausgelassen. Ich inhaliere die Harmonie und den Zusammenhalt und spüre, ich werde auf diesen 42,195 Kilometern nicht alleine sein. "Auf morgen!" Die Weingläser klirren. Michael und ich schauen ein wenig ernüchtert auf unsere Gläser. Sie sehen aus wie Urinproben. Apfelschorle. Aber wir wissen ja, warum!

 Humorist Christian Pape und RP-Redakteur Michael Heckers präsentieren stolz ihre Finisher-Medaillen vom Köln-Marathon.

Humorist Christian Pape und RP-Redakteur Michael Heckers präsentieren stolz ihre Finisher-Medaillen vom Köln-Marathon.

Foto: Dirk Jansen manus sinister

Eine Woche lang habe ich den medizinischen Rat befolgt, täglich über drei Liter Wasser zu trinken. Der Anweisung, ausgiebig zu schlafen, konnte ich dagegen nicht nachkommen. Wie auch? Die drei Liter wollten in der Nacht rücksichtslos wieder raus. Und das in mehreren Etappen. Der Wecker reißt mich Sonntagmorgen um 6 Uhr erbarmungslos aus meinen Marathon-Träumen. Erst mal heiß duschen. Dann eine Tasse Kaffee, nicht mehr. Ein Milchbrötchen mit Marmelade, ein Smoothie. Ich klebe mir meine Brustwarzen großflächig mit Pflaster ab, damit sie beim Lauf bloß nicht wundscheuern. Die Pulsuhr hängt noch am Ladekabel. Laufhose, Laufshirt. Hält die Startnummer? Der gelbe Zeitmesser-Chip sitzt fest am Laufschuh. Oder etwa nicht? Trainingsklamotten drüber. Köln, wir kommen!

Kurz nach 9 Uhr. Wir stehen auf dem Ottoplatz vor dem Deutzer Bahnhof. Eine Stimmung wie im Karneval. Hunderte Dixi-Klos, davor elendig lange Schlangen tippelnder, hüpfender, nervös dreinblickender Jecke, verkleidet in neonbunten Laufklamotten. Kölsche Karnevalsmusik dröhnt aus riesigen Lautsprechern. "Hey Christian! Läufst du auch mit?" Verdutzt drehe ich mich um. Hinter mir stehen die Jungs von Kasalla. Gitarrist Flo Peil ist ein begnadeter Marathonläufer. Zwei Wochen musste er verletzungsbedingt mit dem Training pausieren. Deshalb geht er mit seinen Bandkollegen nur mit der Staffel an den Start, jeder läuft etwa zehn Kilometer. Oh je. Meine Ausfallzeit liegt bei über zwei Monaten. Muss ich jetzt rückwärts laufen? "Genieße jeden Kilometer. Beim ersten Marathon heißt das Ziel Ankommen." Danke, Flo! Immer mehr Freunde finden sich ein. Sie schwenken Transparente, Pompons oder blasen mit dicken Backen in übergroße Vuvuzelas. Amelie flüstert mir ins Ohr: "Papa, ich glaube du gewinnst!" Kind müsste man sein...

 Physio Frank Hanswillemenke legt nach dem Lauf gleich wieder Hand an.

Physio Frank Hanswillemenke legt nach dem Lauf gleich wieder Hand an.

Foto: Dirk Jansen manus sinister

9.45 Uhr. Wir suchen unseren Startblock. Dichtes Gedränge. Ganz vorne die Kenianer. Irgendwann wir. Oberbürgermeisterin Henriette Reker begrüßt insgesamt 26.000 Läuferinnen und Läufer. Einer davon bin ich. Ich schaue zum Himmel. Noch scheint die Sonne.

10 Uhr. Das Startkommando. "Michael, ich bin froh, hier zu sein." "Ich auch. Es waren tolle sechs Monate. Wir sehen uns im Ziel!" "Versprochen!" Eine innige Umarmung. Jeder weiß, was der andere gerade denkt und fühlt. 5-4-3-2-1-Peng! Konfettiregen. Jubelnde Menschen. Ich habe einen Kloß im Hals. Nach sechs endlosen Minuten setzt sich unser Block endlich in Bewegung. Die ersten Laufschritte. Gänsehaut am ganzen Körper. Die Zeitnahmematten auf der Straße piepen wild. Es gibt kein Zurück mehr. "Piiiep!" Mein erster Marathon beginnt.

 Unterwegs im Pulk: Mit der Startnummer 1230 durch Köln - Christian Pape.

Unterwegs im Pulk: Mit der Startnummer 1230 durch Köln - Christian Pape.

Foto: Dirk Jansen manus sinister

Kilometer 1. Es geht über die Deutzer Brücke, vorbei am Maritim. Wie oft bin ich hier im Karneval schon die Treppen hochgesprintet, um gerade noch rechtzeitig auf der Bühne zu stehen. Jetzt renne ich in Laufschuhen um das Hotel. Verrückt. Es geht runter zum Rhein. Doch mein Blick ruht auf meiner Pulsuhr. Ich soll nicht schneller als sechs Minuten pro Kilometer laufen. Zwischen 6:00 und 6:15 Minuten, so die Experten. Das Display zeigt 5:47 Minuten. Ich muss mich bremsen.

Kilometer 11. Wie von Geisterhand zieht es mich auf den Lärm zu. Der Rudolfplatz kocht. Die Stimmung ist grandios. "Lauf, Christian, lauf!" Freunde und Familie stehen am Straßenrand und feuern mich lautstark an. Amelie springt mir entgegen, drückt mir eine Getränkeflasche in die Hand. Die Mischung: Wasser, Apfelsaft, Salz. An der Flasche klebt ein Powergel-Tütchen. Ich quetsche mir die eklige, dickflüssige Pampe in den Mund und spüle schnell nach. Konzentrierte Kohlenhydrate können echt fies schmecken. Hätte ich doch nur eine Tupperdose Heckers-Nudeln mitgenommen.

Kilometer 16. Leichter Nieselregen. Eine willkommene Erfrischung. Wo bin ich eigentlich? Ah, die Universität. Vielleicht steht ja ein ehemaliger Professor von mir am Straßenrand und denkt gerade: "Guck mal da, der Pape. Aus ihm ist also doch noch etwas geworden. Ein richtiger Marathoni." Ich schaue mich mehrmals um. Kein Professor zu sehen.

Kilometer 21. Halbmarathondistanz. 2:04 Stunden. Ich bin immer noch ein bisschen zu schnell. Hoffentlich rächt sich das nicht. Der Friesenplatz ist ein Meer aus Menschen. Ich sehe Amelie! Wow, wie haben die nur so schnell hierhin gefunden? Der Zeitplan von Nicole Heckers geht auf. Sie lotst die Truppe durch Köln. Powergel, Wasser, Apfelsaft, Salz. "Wie fühlst du dich?" Mein Physiotherapeut fiebert mit. Ich recke den Daumen hoch und kann es selber nicht glauben. Achillessehne, Adduktoren, Leiste - nichts zwickt. Zum ersten Mal seit zwei Monaten. "Nicht überdrehen! Wichtig ist das Ankommen!" Ok! Locker weiter.

Kilometer 25. Von Ehrenfeld geht es nach Nippes. Habe ich Halluzinationen? Ich werde von einem Mann mit Krone, Zepter und Königsmantel überholt. Vor mir läuft eine Gruppe Funkenmariechen. Neben mir ein Känguru. Tja, die Kölner.

Kilometer 27. War es das? Ein Schmerz in der rechten Wade bremst mich aus. Nicht stechend, eher dumpf. Ich nehme Tempo raus, laufe an vielen "Kollegen" vorbei, die sich nur noch gehend fortbewegen können. Ich versuche mich abzulenken. Samba-Bands an der Straße. Ich winke ihnen zu, klatsche ein paar Kinder ab, die mir fröhlich ihre Hände entgegenstrecken. Am Verpflegungsstand greife ich eine Banane und schütte mir Wasser über den Kopf. Warum brennt das so in den Augen? Oh, ich habe Dextro Energy erwischt.

Kilometer 36. Ich bin wieder im Rhythmus. "Noch sechs Kilometer. Ihr habt es gleich geschafft!", feuert der Moderator an und legt Xavier Naidoos "Dieser Weg wird kein leichter sein" auf. Am Straßenrand liegen viele Läufer völlig erschöpft und von Krämpfen geplagt und müssen abbrechen. Ich werde demütig. Wie in einem Albtraum kleben meine Füße plötzlich am Asphalt fest. Ja, spinne ich? Dann wird auch mir klar, dass hier für die Läufer süßes Red Bull ausgeschenkt und verschüttet wird. Ich fingere mir noch ein Päckchen Powergel aus der Hosentasche und kippe Red Bull hinterher. Wenn das nicht hilft, was sonst?

Kilometer 38. Niemand redet mehr. Ich höre um mich herum nur noch das Trippeln der Schritte. Hecheln. Stöhnen. Meine Familie! "Durchhalten!", motiviert Silvia mich. Mama und Papa sind sichtlich ergriffen. Amelie ist einfach nur aus dem Häuschen. Glaubt sie immer noch, ich würde gewinnen? Dr. Bimmermann rennt mit Pompons wild wedelnd hinter mir her. Ich werde automatisch schneller. Bimmermann und Red Bull verleihen Flügel. Es geht in die Altstadt. Der tosende Applaus reißt mich wie ein Orkan mit.

Kilometer 40. Menschenspalier und Jubelgeschrei am Neumarkt. Jetzt lasse ich mir die Butter nicht mehr vom Brot nehmen. Ich schlucke. Tränen kullern über mein Gesicht. Ich werde es tatsächlich schaffen.

Kilometer 42. Tausende Zuschauer auf der Hohe Straße. Und da ist er, der Dom! Links ab in die Komödienstraße. Ich kann es sehen, das Ziel! Meine Sohlen berühren den roten Teppich. Proppenvolle Tribünen. Ein Schauer nach dem anderen jagt mir über den Rücken. Das Zieltor! Ich balle die Faust. Fotoapparate blitzen. Ich renne über die Zeitnahmematte. "Piiiep!" Schluss. Aus. Ende. Ich reiße die Arme hoch und warte darauf, bewusstlos umzufallen. Von wegen. Mir geht es prima! Ein Plastikumhang der Blauen Funken soll mich vor Auskühlung schützen. Die Medaille baumelt um meinen Hals. "Michael! Versprechen eingehalten!" Unser ganzer Tross liegt sich in den Armen. Ein Menschenknäuel. Nicht nur ich habe feuchte Augen. Am Dom brechen alle Dämme. Die Erleichterung ist zum Greifen, denn alle wissen, das Projekt "Marathon in Köln" hing am seidenen Faden. Ich seufze vor Rührung. Frank seufzt mit, während seine heilenden Hände unsere verspannten Waden und Oberschenkel kneten. Wir liegen auf Jacken in einer Grünanlage. Es riecht nach Hundepipi. Egal. Ich fühle mich pudelwohl. "Na, Marathoni! Die Nase voll vom Laufen? Oder greifen wir bei einem anderen Marathon noch mal an?" In seinen Augen sehe ich, dass Michael meine Antwort längst kennt. "Laufen soll süchtig machen. Ich glaube, ich bin infiziert!" Beim nächsten Mal hoffentlich ohne Verletzung.

Ich liege im Bett. Meine Blase drückt. Sie ist Kölsch einfach nicht mehr gewöhnt. Viele Kölsch schon gar nicht. Ohne meine Familie, dem medizinischen Team, meinen Freunden, der Rheinischen Post und euch, den Lesern meiner Kolumne, hätte ich das nie geschafft. Ich bin sehr dankbar. Mir fallen die Augen zu. Obwohl die Blase drückt.

UNSER AUTOR CHRISTIAN PAPE (43) IST HUMORIST UND HOBBYLÄUFER. NACH INTENSIVER VORBEREITUNG ABSOLVIERTE DER BEECKER AM 2. OKTOBER MIT RP-REDAKTEUR MICHAEL HECKERS (42) DEN KÖLN-MARATHON.

(RP)
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