Anschlag in Paris Frankreichs neue Islamisten kommen aus gutem Hause

Paris · Propaganda aus dem syrischen Bürgerkrieg verführt junge Franzosen aus allen Gesellschaftsschichten. Die Behörden bekommen das Problem nicht in den Griff. Das wird nicht erst seit dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" deutlich.

Die Warnungen vor der drohenden Gefahr waren zuletzt immer drängender ausgefallen. "Die Bedrohung Frankreichs ist maximal", sagte kurz vor Weihnachten der Abgeordnete Eric Ciotti, Vorsitzender einer parlamentarischen Untersuchungskommission, die eingesetzt worden war, um die zunehmende Radikalisierung junger französischer Muslime zu beleuchten. Mit dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" scheint die Gefahr Realität geworden zu sein.

Die Zahlen sind in der Tat beängstigend: Im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der französischen Staatsbürger, die sich dem Kampf extremistischer Gruppen in Syrien oder Irak anschlossen, beinahe verdoppelt. "Noch nie war die Terrorgefahr in Frankreich so groß wie jetzt", bestätigte Premierminister Manuel Valls wenige Tage später. Er reagierte damit auf die Tat eines 20-Jährigen, der soeben Polizeibeamte in einem Vorort der Stadt Tours an der Loire mit einem Messer attackiert hatte. Der Angreifer, der "Allahu akbar" ("Gott ist groß") gerufen hatte, wurde erschossen.

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Die französischen Behörden stemmen sich bislang vergeblich gegen den Trend zur Radikalisierung, der über das Internet vor allem mit Propaganda aus dem syrischen Bürgerkrieg befeuert wird. Gesetze wurden verschärft, die Grenzkontrollen verstärkt. Es half nicht viel - der Zustrom junger Franzosen in die Konfliktzone reißt nicht ab. Nach Angaben des französischen Innenministers Bernard Cazeneuve kämpfen derzeit 1132 Franzosen aufseiten dschihadistischer Gruppen in Syrien und im Irak. Und deren Profil hat sich geändert. So sei der Anteil der Konvertiten deutlich gestiegen, erklärte Cazeneuve. Von den 376 identifizierten Franzosen, die sich im Kampfgebiet aufhielten, seien 23 Prozent nicht als Muslime geboren.

Aber auch die soziale Herkunft der selbst ernannten Gotteskrieger entspricht immer häufiger nicht mehr den gängigen Klischees. Lange galten vor allem der Großraum von Paris und Lyon mit ihren gesichtslosen Trabantenstädten als Brutstätten der Radikalisierung, wie auch alle Gegenden, in denen die muslimische Gemeinde stark und die Zahl der Sozialwohnungen hoch ist. Das klassische Muster vom gescheiterten Einwandererkind mit schwieriger sozialer Herkunft und Identitätsproblemen passte noch auf Mehdi Nemmouche (29), einen Heimkehrer aus dem syrischen Bürgerkrieg, der im vergangenen Jahr im Jüdischen Museum von Brüssel drei Menschen erschoss, oder auch auf Mohamed Merah (24), der im März 2012 in Toulouse beim Angriff auf eine jüdische Schule ein Blutbad anrichtete und sieben Menschen tötete.

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Foto: Screenshot Twitter

Aber neuerdings tragen die fanatisierten jungen Männer auch gutfranzösische Namen, stammen aus bürgerlichen, nicht-muslimischen Familien. Wie die beiden, die im vergangenen Herbst mit langen Bärten und Tarnanzügen in einem der barbarischen Enthauptungsvideos der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) auftauchten. Einer der beiden wurde als der 22 Jahre alte Maxime Hauchard identifiziert. Hauchard lebte in einer intakten Familie. Die Mutter arbeitet in einer normannischen Kleinstadt als Verwaltungsbeamtin, der Vater ist leitender Angestellter in einem Industriebetrieb. Auch in der Schule lief es gut.

Aber dann reiste Hauchard nach dem Abitur nach Mauretanien, um dort Sprachkurse zu geben - ein Ferien-Job, der ihn offenbar in Kontakt mit dem Islam brachte. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich wurden seine Facebook-Einträge immer radikaler. Im Sommer 2013 verschwand er schließlich nach Syrien.

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Fälle wie der von Maxime Hauchard sind der Alptraum der französischen Anti-Terror-Experten. Kehren Männer wie Hauchard nach einer militärischen Ausbildung nach Europa zurück, mit dem Befehl ihres Emirs, einen Anschlag zu verüben, sind sie kaum zu stoppen. Sie sprechen perfekt Französisch, sie kennen das Land.

Und: Anders als Bombenattentate, die eine ausgeklügelte Logistik, ein präzises Timing und technische Kenntnisse erfordern, können heimgekehrte Dschihadisten auf jede erdenkliche Weise zuschlagen. Sturmgewehre vom Typ Kalaschnikow, wie sie offenbar gestern in Paris eingesetzt wurden, sind in Frankreich seit dem Balkankrieg der 90er Jahre vergleichsweise problemlos zu bekommen.

Die große Sorge der Behörden ist, dass sich potenzielle Attentäter in Frankreich zunehmend auf radikalisierte Gesinnungsgenossen stützen könnten. Erst kürzlich hob die französische Polizei in Südfrankreich ein Netzwerk aus, das Rekruten für den Krieg in Syrien anwerben wollte. Der Inlandsgeheimdienst beobachtet systematisch Moscheen, in denen extremistische Umtriebe vermutet werden.

Aber nicht dort, sondern ausgerechnet in den überbelegten französischen Haftanstalten scheint sich das radikal-islamische Gedankengut am besten verbreiten zu lassen. Einem Bericht des konservativen Abgeordneten Guillaume Larrivé zufolge müssen "mehrere Hundert Häftlinge" als muslimische Extremisten eingestuft werden. Dabei erfolge die Anwerbung nicht mehr so offen wie früher, sondern verdeckt.

Eine Bekämpfung dieses Gedankenguts ist so gut wie unmöglich. So sind lediglich 183 muslimische Gefängnisgeistliche in den Anstalten tätig - für schätzungsweise 40 000 Insassen mit muslimischem Hintergrund. Kurz: freie Bahn für Hassprediger.

(RP)
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