Russischer Oppositionspolitiker Putin-Kritiker Nemzow von vier Kugeln in den Rücken getroffen

Moskau · Der Putin-Kritiker Boris Nemzow ist in Moskau auf offener Straße ermordet worden. Der 55-Jährige wurde auf einer Brücke in der Nähe des Kremls von vier Schüssen in den Rücken getroffen. Putins Sprecher verurteilte die Tat als "Mord".

Boris Jefimowitsch Nemzow mit vier Kugeln in den Rücken erschossen
Foto: dpa, of jak nic

Kurz vor einer geplanten Demonstration der russischen Opposition ist in Moskau einer der letzten Kritiker von Präsident Wladimir Putin erschossen worden. Boris Nemzow sei am späten Freitagabend über eine Brücke nahe des Kreml gelaufen, als ihm ein Unbekannter vier Kugeln in den Rücken geschossen habe, sagte eine Sprecherin des Innenministeriums. Putin ließ erklären, alles deute auf einen "Auftragsmord" hin. US-Präsident Barack Obama verurteilte einen "brutalen Mord".

Der 55-jährige frühere Vize-Regierungschef Nemzow war einer der profiliertesten Putin-Kritiker. Nur drei Stunden vor dem Attentat hatte er dem Kreml-Chef im Radiosender Moskauer Echo erneut eine "unsinnige Aggression gegen die Ukraine" vorgeworfen, die die russische Wirtschaft in die Krise gestürzt habe. Das Interview wurde zu seinem politischen Vermächtnis.

Nemzow in Begleitung einer Ukrainerin

Innenministeriumssprecherin Elena Alexiwa sagte dem TV-Sender Rossia 24, Nemzow sei nach einem Essen in einem Restaurant in Begleitung einer jungen Ukrainerin über die Große Steinerne Brücke in Sichtweite des Kreml gelaufen, als sich gegen 23.15 Uhr ein Wagen genähert habe. "Laut vorläufigen Informationen hat ein noch nicht identifizierter Täter aus einem Wagen heraus mindestens sieben bis acht Mal auf Nemzow geschossen", erklärte die Staatsanwaltschaft am Samstagmorgen. Vier davon trafen Nemzow in den Rücken. Die Frau überlebte den Angriff.

"Im 21. Jahrhundert, im Jahr 2015, wird ein Oppositionsführer unter den Mauern des Kreml getötet - das übersteigt die Vorstellungskraft", sagte Nemzows Weggefährte und Putins Ex-Ministerpräsident Michail Kassjanow. Nach seinen Worten musste Nemzow den Preis dafür zahlen, "dass er jahrelang dafür kämpfte, dass Russland ein freies und demokratisches Land wird". Die Tat erschütterte die russische Hauptstadt, noch in der Nacht legten viele Moskauer Blumen an der Brücke nieder.

Nemzow hatte viele Feinde

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Alles deute auf einen Auftragsmord aus politischen Motiven hin, sagen die Ermittler. Es handele sich "hundertprozentig" um eine Provokation, meint Putins Sprecher Dmitri Peskow. Der Präsident verurteile den "brutalen Mord".

Wie stets bei solchen politischen Verbrechen in Russland richten sich rasch alle Augen auf den Kreml. Und wie fast immer ist der Machtapparat rasch dabei, jeden Verdacht zu zerstreuen. Die offizielle Lesart: Solche Morde schaden dem Präsidenten eher als das sie ihm politisch nützen. "Bei aller Achtung für das Andenken Boris Nemzows - in politischer Hinsicht hat er keine Bedrohung dargestellt (...) für die amtierende Führung Russlands und für Wladimir Putin", betont Peskow in einem Radiointerview.

Der frühere Vize-Regierungschef hat sich zwar immer wieder mit scharfer Kritik an Putins Politik hervorgetan - vor allem zuletzt mit Protesten gegen die "russische Aggression" gegen die Ukraine. Doch die Anhängerschaft des früheren Reformers der 1990er Jahr gilt als gering.

Gleichwohl zweifelt niemand daran, dass Nemzow jede Menge Feinde hatte besonders im Lager der ultranationalistischen und extremististischen Patrioten. Wegen seiner engen Kontakte zur prowestlichen ukrainischen Regierung zog Nemzow in seiner Heimat offenen Hass und den Vorwurf des Verrates auf sich. Dass er hoffte, der Funken der proeuropäischen Revolution auf dem Maidan in Kiew vor einem Jahr könne auf Moskaus überspringen, hat längst zu einer Gegenbewegung unter dem Namen "Anti-Maidan" in Russland geführt.

Obama spricht von "brutalen Mord"

US-Präsident Barack Obama verurteilte den "brutalen und bösartigen Mord". "Wir rufen die russische Regierung zu einer raschen, überparteilichen und transparenten Ermittlung auf", hieß es in einer Erklärung des Weißen Hauses. Die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

"Nemzow war ein unermüdlicher Anwalt seines Landes", erklärte Obama weiter. "Er setzte sich dafür ein, dass seine Mitbürger die Rechte erhalten, die allen Menschen zustehen." Er habe Nemzow auch für dessen mutigen Kampf gegen die Korruption bewundert. Beide hätten sich 2009 in Moskau getroffen, als Obama Russland besuchte.

Erschüttert zeigte sich auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko. Nemzow "war eine Brücke zwischen der Ukraine und Russland, und diese Brücke wurde von den Schüssen eines Mörders zerstört", schrieb er auf Facebook. "Ich glaube nicht, dass das Zufall war."

Der Präsident des Europarates, Thorbjörn Jagland, erklärte, er sei "schockiert" von der Tat. Und Human Rights Wacht verlangte wie Obama eine "überparteiliche Ermittlung".

Vom Vize-Regierungschef zum Putin-Kritiker

Nemzow startete seine politische Laufbahn als Gouverneur der zentralrussischen Region Nischni Nowgorod. Er wurde am 9. Oktober 1959 in der Schwarzmeermetropole Sotschi geboren. In seiner Heimatstadt hatte Nemzow vor den ersten russischen Olympischen Winterspielen dort im vergangenen Jahr Putin auch Korruption vorgeworfen.

Vor allem in den 1990er Jahren hatte sich Nemzow als liberaler Reformer einen Namen gemacht - zuerst als charismatischer Gouverneur in Nischni Nowgorod (früher Gorki) an der Wolga. Präsident Boris Jelzin hatte ihn zwischen 1997 und 1998 als Vize-Ministerpräsident in die Regierung nach Moskau geholt. Bei der Präsidentschaftswahl 2008 schickte ihn die liberale Partei Union der rechten Kräfte ins Rennen, er legte die Kandidatur aber vor der Wahl nieder.

Der große und sportliche Nemzow, vierfacher Vater, war zeitweilig auch als Präsidentenanwärter gehandelt worden. "Ich bin liberal, was Wirtschaftsfragen angeht, aber für eine starke Staatsmacht in der Politik", sagte er einmal in einem Zeitungsinterview.

Politologen bescheinigten Nemzow, der sich gern mit jungen Frauen umgab, starke Ausstrahlungskraft. Experten hielten ihm aber auch vor, die zersplitterte Opposition in Russland nicht einigen zu können.

Den Einschüchterungen durch die Behörden hatte er immer wieder getrotzt. Weil er gegen Haftstrafen für Putin-Gegner auf die Straße gegangen war, war er vor einem Jahr selbst zu mehreren Tagen Gefängnis verurteilt worden. Er gehörte zu den Oppositionellen, die für den 1. März zu einer Großdemonstration in einem Moskauer Vorort aufgerufen hatten. Ein Co-Organisator, Leonid Volkow, erklärte nach dem Attentat, die Demonstration sei abgesagt worden und werde durch einen Gedenkmarsch für Nemzow ersetzt, der am Sonntag durch die Innenstadt ziehen soll.

(AFP)
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