Der "Sultan" von Ankara Kritik betrachtet Erdogan als Majestätsbeleidigung

Seit mehr als zwei Wochen erinnern die Proteste in der Türkei an Szenen aus dem arabischen Frühling. Verantwortlich für die Eskalation ist insbesondere der türkische Ministerpräsident Erdogan. Nun droht er den Demonstranten mit einem Ultimatum. Sein Stil erinnert zunehmend an einen Alleinherrscher. Kritiker bezeichnen ihn längst als Sultan von Ankara. Doch wenn Erdogan Demonstranten als Lumpen und Gesindel beschimpft, steckt dahinter auch politisches Kalkül.

Recep Tayyip Erdogan: Das ist der türkische Staatspräsident
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Das ist Recep Tayyip Erdogan

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Wenn der türkische Regierungschef Erdogan zulangt, wächst kein Gras mehr. Mit martialischer Rhetorik drischt er seit dem ersten Tag der Proteste der türkischen Jugend auf die Kritiker der Straße ein. Die in Demokratien sonst übliche Sprache, die Spielraum für Kompromisse lässt, ist nicht sein Ding.

"Wir werden keine Toleranz zeigen", kündigte nach der Rückkehr von einer mehrtägigen Reise durch Nordafrika an und beschimpft die Protestierenden als Plünderer, extremistische Anarchisten, Lumpenpack. Die Protesten müssten sofort ein Ende nehmen. Sonst müsse man den Demonstranten eben in einer Sprache antworten, die sie verstehen. Erdogan droht mit Gewalt, vermittelt Härte, den Demonstranten spricht er jegliche Legitimation ab. Seine Sicht auf die Proteste ist geteilt in Schwarz und Weiß. Frauen seien von Demonstranten wegen ihres Kopftuches attackiert worden, schimpft er. Ohne Beweise oder auch nur nähere Details für seine Anschuldigung vorzulegen.

24-Stunden-Frist

Zuletzt schlug Erdogan ein Referendum über die Zukunft des Gezi-Parks vor. Nur scheinbar ist das ein kleines Entgegenkommen. Denn Erdogan weiß durch Umfragen, dass die Demonstranten in der türkischen Bevölkerung keine Mehrheit haben. Und damit ist die Sache für Erdogan geklärt. Seine Kritiker weisen ihn schon lange darauf hin, dass in einer Demokratie auch die Interessen von Minderheiten eingebunden werden. Sonst herrscht die Diktatur der Mehrheit.

Auch an diesem Donnerstag setzte Erdogan den Konfrontationskurs fort. Ultimativ forderte er die Demonstranten in Istanbul auf, das Protestlager im Gezi-Park zu verlassen. "Wir werden nicht mehr länger abwarten", zitierten ihn türkische Medien. "Verschwindet und lasst uns gegen die illegalen Organisationen vorgehen", sagte er demnach. Und schreckt auch nicht vor dem Wort der "letzten Warnung" zurück. Die Polizei werde den Platz binnen 24 Stunden von Unruhestiftern räumen, erklärte Erdogan.

Ein Mann aus einem Macho-Viertel

Die brutale Rhetorik ist unauflöslich mit Tayyip Erdogan verbunden. Er hat sie aus seiner Biographie miteingebracht in die Politik. Aufgewachsen ist er auf den Straßen des Istanbuler Hafenviertels Kasimpasa, was viel über den 59-Jährigen verrät. Wie das Time-Magazin einmal in einem Porträt schilderte, sind die Männer aus Kasimpasa berühmt für ihre aufbrausende Art, empfindlichen Stolz und schroffen Tonfall. Mitunter würden diese machohaften Typen daher auch gerne als "Local cowboys" bezeichnet.

Gerade im konservativen, traditionell männlich dominierten Teil der türkischen Gesellschaft kommt das gut an. Erdogan hat dort seine treuesten Anhänger. Bei seinen Traktaten gegen die protestierenden Jung-Türken vom Taksim jubelten sie ihm zu. Bei den letzten Wahlen 2011 gaben ihm fast 50 Prozent der Türken ihre Stimme. Auch daher rührt Erdogans großes Selbstbewusstsein.

Das Land boomt

In der Türkei hat er achtbare Erfolge vorzuweisen. Erdogans wirtschafts- und reformpolitische Leistungen in den letzten zehn Jahren sind unbestritten. Als Erdogan übernahm, war das Land wirtschaftlich am Boden. Inzwischen hat sich das Land zu einem der größten Boom-Staaten der Welt entwickelt, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich in der vergangenen Dekade verdreifacht. Die Zahl der Autos auf türkischen Straßen hat sich unter Erdogan verdoppelt. Der Spiegel raunte bereits vom "anatolischen Tiger". Und auch im politischen System hinterließ Erdogan Spuren. Das zuvor übermächtige Militär wurde entmachtet, die alten Seilschaften der Kemalisten gekappt.

Doch offenbar sind die Erfolge Erdogan zu Kopf gestiegen. Seit seinem Wahlsieg 2011 gebärdet er sich wie ein Alleinherrscher. Kritik lässt er nicht zu, auch nicht aus den eigenen Reihen. Und auch Journalisten leben gefährlich, wenn sie sich mit Erdogan anlegen. Kritische Sender, die zu viel über die Proteste vom Taksim berichteten, mussten Strafe zahlen, mehrfach fanden sich regierungskritische Journalisten im Gefängnis wieder. Auf der von "Reporter ohne Grenzen" erstellten Rangliste der Pressefreiheit rangiert die Türkei mittlerweile auf Platz 154, noch hinter Russland oder dem Irak. Seinen Kritiker verweisen nun gerne auf das Titelbild des "Economist", der Erdogan als osmanischen Sultan zeigte.

2014 stehen Wahlen an

Zuletzt befeuerte Erdogan auch noch Ängste, er wolle das Land schleichend islamisieren. Seine Gegner verschreckte er mit einem restriktiven Alkohol-Gesetz, mit öffentlichem Nachdenken über ein Verbot der Abtreibung, mit Bemerkungen über eine "fromme Jugend", die er im Land sehen will. Ausdrücke von Normalität für ihn und seine frommen Anhänger, aber Horrorszenarien für Millionen anderer Türken.

Dass Erdogan nun im Konflikt um den Gezi-Park auf Konfrontation setzt, hat insofern auch mit der Spaltung der türkischen Gesellschaft in säkulare und religiöse Kräfte zu tun. Wenn er beim Thema Gezi-Park einknicke, dann werde er Probleme mit seiner Wählerbasis bekommen, ließ Erdogan wissen. Und rief seine Anhänger auf, den Demonstranten eine "Lektion" zu erteilen. Im März 2014 sind Kommunalwahlen. Und das ist erst der Auftakt. Denn im August soll das Volk erstmals direkt den Staatspräsidenten werden. Dessen Amt will Erdogan zuvor mit einer Verfassungsreform zu mehr Macht verhelfen - und anschließend dafür kandidieren.

Showdown am Wochenende

Zunächst aber will er erst noch einmal mit Hilfe seiner Anhänger seine Macht demonstrieren. Für das kommende Wochenende sind Massenkundgebungen der Regierungspartei AKP geplant. Die Worte Erdogans klangen dabei erneut wie eine Drohung: Ein Wort von ihm reiche, um Millionen zu mobilisieren. Schon wächst die Angst vor einem Zusammenstoß zwischen Gegnern und Anhängern Erdogans. Einzelne Medien sehen die Türkei schon am Rande eines Bürgerkriegs.

Im Ausland wächst derweil die Kritik an Erdogan. Auch drastische Vergleiche sind bereits zu hören. So vergleicht Grünen-Chefin Claudia Roth den türkischen Ministerpräsidenten mit dem russischen Autokraten Wladimir Putin. Erdogan nähere "sich mit seinem Demokratieverständnis und seiner Politik mehr und mehr seinem Freund Putin an", sagte Roth unserer Redaktion. Die EU solle die Beitrittsverhandlungen als Druckmittel benutzen.

"Erdogan muss sich entscheiden, ob er Demokrat oder Sultan sein will", teilt auch Unions-Außenexperte Philipp Mißfelder gegenüber unserer Redaktion die Kritik. Deutschland erwarte, dass der türkische Ministerpräsident auf die Demonstranten zugehe statt den Druck auf sie zu erhöhen. "Unser Interesse gilt einer starken und demokratischen Türkei", betonte das CDU-Präsidiumsmitglied.

Mit Agenturmaterial

(pst)
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