100 Jahre Oktoberrevolution Unter dem roten Stern

Vor 100 Jahren eroberten die Bolschewiki in der Oktoberrevolution die Macht in Russland. Es ist der Beginn eines gigantischen Experiments, das Millionen Unschuldige mit dem Leben bezahlen.

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Russland vor 100 Jahren und heute

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Schon der Anfang ist Propaganda. Als in der russischen Hauptstadt Petrograd die radikalen Sozialisten die Macht übernehmen, 100 Jahre ist das jetzt her, da wirft das die Bürger noch nicht aus den Betten. Dieser 7. November 1917, der 25. Oktober des alten, in Russland immer noch gültigen Julianischen Kalenders, ist zwar ein Wendepunkt der Weltgeschichte; er sieht nur nicht so aus. Zwar feuert am Abend der Panzerkreuzer "Aurora" gewissermaßen als Startschuss seine Kanone ab, zwar wird das Winterpalais gestürmt, der Sitz der Regierung, es wird gerangelt und wohl auch geschossen — aber selbst viele Petrograder sollen von der Revolution anderntags aus der Zeitung erfahren haben. Die landläufige Vorstellung von machtvollen Proletariermassen, die sich durch die Stadt wälzen, von kommunistischen Märtyrern, die noch im Tod ihre Kameraden vorwärtstreiben — das ist eine Erfindung. Der Regisseur Sergej Eisenstein hat zehn Jahre später mit seinem Film "Oktober" ein Bild geschaffen, das jahrzehntelang als Wahrheit galt.

Tatsächlich wird das Winterpalais, als die Bolschewiki angreifen, nur noch von Offiziersschülern und einem Frauenbataillon verteidigt. Tatsächlich schießt die "Aurora" nur mit Platzpatronen. Tatsächlich verlief die Nacht unblutig. Tatsächlich war diese Oktoberrevolution ein Umsturz der Gremien, der sich über mehrere Tage vollzog. Erst dann hatten Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, und seine Mitkämpfer die Macht von der bürgerlichen Provisorischen Regierung erobert, die ihrerseits acht Monate zuvor den Zaren gestürzt hatte.

Die Oktoberrevolution ist eine Etappe eines kurvenreichen Wegs. Im April ist Lenin aus dem Exil nach Russland zurückgekehrt, in ein Land, das nach drei Jahren Krieg am Ende seiner Kräfte ist. Ein erster kommunistischer Aufstand gegen die bürgerliche Regierung ist im Juli gescheitert; Lenin hat schon wieder abtauchen müssen, dieses Mal in Finnland. Jetzt, im Herbst, nehmen sich die Bolschewisten mit Gewalt, was sie vermutlich auch auf demokratischem Wege bekommen hätten — bei regionalen Wahlen im September hatten sie massiv zugelegt. Aber auf so etwas Bürgerliches wie Wahlerfolge warten? Nicht mit Lenin! Aus Finnland schreibt er den Genossen, es gehe um Ehre oder Tod. Auf Mehrheiten zu setzen, sei "schändliche Formalitätsspielerei": "Warten wäre ein Verbrechen an der Revolution." Das ist der Ton der kommenden Jahre.

Erst am 10. Oktober ist Lenin wieder in Petrograd aufgetaucht, und nach der Revolution steht er als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare vor der Aufgabe, das ausgeblutete Riesenreich zum Kommunismus zu führen. Kommunismus, das ist nach der Lehre von Marx und Engels der Endpunkt einer geschichtlichen Aufwärtsentwicklung, die Aufhebung des Widerspruchs zwischen revolutionärem Proletariat und ausbeuterischer Bourgeoisie. In der Marx'schen Lehre vollzieht sich diese Entwicklung nach Gesetzmäßigkeiten, die wissenschaftlich beobachtbar sind.

Die Bolschewiki ertränken alle theoretischen Spitzfindigkeiten in Blut. Für den Pragmatiker Lenin, schreibt der Historiker Helmut Altrichter, "waren marxistische Logik und Mehrheitsprinzipien zweitrangig, nur Mittel zum Zweck". Konkret klingt das dann so: "Unsere Staatsgewalt ist zu mild", schreibt Lenin Anfang Mai 1918. "Die Diktatur setzt bei der Niederhaltung sowohl der Ausbeuter als auch der Rowdys eine wirklich feste und schonungslose revolutionäre Staatsgewalt voraus." Lenin unterzeichnet Todesurteile am laufenden Band und verfasst Direktiven, die Zehntausende das Leben kosten. "Je größer die Zahl von Vertretern der reaktionären Bourgeoisie und Geistlichkeit ist, die es uns zu erschießen gelingt, desto besser", schreibt er im März 1922 an das Politbüro. Der Revolutionär ist auch ein ganz ordinärer Massenmörder, ein Schreibtischtäter. Die totalitäre Idee triumphiert. Stalin wird den staatlichen Terror in seinen monströsen "Säuberungen" zwischen 1936 und 1938 auf die Spitze treiben. Anfang der 50er Jahre sitzen gut zwei Millionen Menschen im Lagersystem des Gulag. Genaue Opferzahlen gibt es nicht; auf 2,5 Millionen allein zwischen 1930 und 1953 schätzt der Historiker Richard Overy die Zahl der Todesopfer.

Politisch ist die kommunistische Wirklichkeit von Marx‘ Vision himmelweit entfernt. Die Weltrevolution bleibt aus, weil die Arbeiter im hochkapitalistischen Westeuropa ihre Zukunft nicht im Umsturz, sondern mehr und mehr in Reformen sehen. Der Staat stirbt auch nicht ab, wie Friedrich Engels das für das kommunistische Zeitalter postuliert hatte. Im Gegenteil: Russland und später die Sowjetunion unterhalten gigantische Apparate zur Planung, Steuerung, Bespitzelung und Unterdrückung. Auch mit exzessiver Gewalt lässt sich der Anbruch einer neuen Zeit nicht erzwingen, weder politisch noch wirtschaftlich.

In Lenins Schriften taucht nach 1917 immer wieder der Begriff des Kompromisses auf — die Sowjetmacht braucht Kompromisse, um zu überleben. Einer heißt Neue Ökonomische Politik. Lenin und Leo Trotzki setzen 1921 marktwirtschaftliche Elemente im Kommunismus durch, um das Chaos zu lindern, das Revolution und Bürgerkrieg angerichtet haben. Dennoch verhungern 1921 und 1922 in Russland vermutlich fünf Millionen Menschen.

Tatsächlich ist die Oktoberrevolution der Start eines bisher in der Menschheitsgeschichte einzigartigen ökonomischen Experiments. Statt auf marktwirtschaftliche Entscheidungsprozesse zu vertrauen, steuert die neue sowjetische Führung die gesamte industrielle und landwirtschaftliche Produktion über ein gesamtwirtschaftliches Planungsbüro. Das war bisher so noch nicht dagewesen. Selbst die Produktionsweise im alten Ägypten oder den sumerischen Stadtstaaten umfasste nur einzelne Bereiche der Wirtschaft. Dasselbe galt für Zwangsprojekte des chinesischen Kaiserreichs wie den Bau der nördlichen Mauer oder des großen Kanals von Kaifeng nach Huangzhou.

Die Neue Ökonomische Politik unterbricht den Prozess nur kurzzeitig. Lenins Nachfolger Josef Stalin geht ganz zur detaillierten Planung der Wirtschaft über. In einem riesigen Buchhaltungssystem wird von oben der Bedarf der Bevölkerung ermittelt und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen an Menschen, Material und Rohstoffen verbunden. Die komplizierten Vorgänge einer Marktwirtschaft sollen in diesem gewaltigen Räderwerk nachgebildet werden — ohne Gewinnmaximierung und Preismechanismus.

Für Lenin war das Vorbild die Reichspost des deutschen Kaiserreichs, der bislang komplexeste Organisationsmechanismus. Schnell wird klar, dass dieses System die Planung und die Bereitschaft der Menschen, daran mitzutun, überfordert. Der Markt ist einfach das bessere Entdeckungsverfahren, das die vorhandene Information in einem System optimal einsetzt. Davon ist das Planungssystem weit entfernt. Zugleich ist ein Menschenbild, das auch auf Erwerbssinn und Anreize setzt, viel realistischer als das des neuen Sowjetmenschen, der angeblich alles im Dienste der Gesellschaft tut. Sowohl die Sowjets als auch später die abhängigen osteuropäischen Satellitenstaaten experimentieren deshalb unentwegt, um diese Schwächen zu überwinden.

Die Ökonomen Friedrich-August von Hayek und Ludwig von Mises prophezeien dem Bolschewismus aus diesem Grund ein schnelles wirtschaftliches Ende. Es ist erstaunlich, dass dieses Ende auf sich warten lässt. Die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten können trotz aller Mängel sogar mit gewissen wirtschaftlichen Erfolgen aufwarten. In den 50er Jahren fürchtet der Westen, dass ihn die Sowjetunion und ihre Satelliten ökonomisch überrunden könnten. Der polnische Ökonom Oskar Lange spricht davon, dass der Sozialismus den Kapitalismus endgültig besiegen werde, wenn die Ostblock-Staaten die größeren Computer zur Planung hätten.

Die brutalen Investitionsprogramme Stalins und seiner Nachfolger lassen die sozialistischen Staaten tatsächlich wachsen. Erkauft sind sie mit unmenschlicher Sklavenarbeit und drakonischen Strafen bei Missachtung der Normen. Als die Sowjetführer aufhören, Menschen wegen Nichterfüllung der Norm zu erschießen, macht sich aber neben gigantischen Fehlplanungen auch ein enormer Schlendrian breit. Die sozialistischen Länder fallen zurück. Bis zum ökonomischen Zusammenbruch dauert es noch etliche Jahre — in der Zwischenzeit müssen die Menschen viel Elend erleiden, selbst wenn sie sich mit den Verhältnissen arrangieren.

Lenins Bolschewiki waren es, die den Begriff "Völkergefängnis" erfunden haben. Sie haben damit die Habsburgermonarchie und das zaristische Russland gemeint. Am Ende wird die Sowjetunion selbst zum Völkergefängnis. Der Kommunismus macht 1989/90 wirtschaftlich, politisch und moralisch bankrott. Und wenn auch in der Geschichte nichts zwangsläufig ist — eine gewisse Folgerichtigkeit wird man diesem Zusammenbruch nicht absprechen können. Für den ehemaligen KGB-Agenten Wladimir Putin ist das Ende der Sowjetunion die "größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts" — für einen russischen Machtpolitiker folgerichtig, ansonsten ein Hohn. Der postsowjetische Phantomschmerz quält Russland und Osteuropa bis heute. Die Ergebnisse sind in der Ost-Ukraine ebenso zu besichtigen wie in Tschetschenien.

Für die kommunistischen Regime, die die Implosion der UdSSR überlebt haben, gibt es nur eine Lebensversicherung — wenn das Ziel ein gewisser Lebensstandard sein soll und nicht bloß die Machterhaltung einer roten Dynastie wie in Nordkorea: marktwirtschaftliche Öffnung. China und Vietnam gehen diesen Weg. Politisch aber sind beide Staaten lupenreine Diktaturen. Ein wirtschaftlich erfolgreicher Kommunismus mit menschlichem Antlitz? 100 Jahre nach der Oktoberrevolution lautet die Antwort: Fehlanzeige.

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