Interview mit Gerd Müller "Flüchtlinge brauchen Perspektiven in der Heimatregion"

Berlin · Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) investiert in feste Unterkünfte, Schulen und Ausbildungsstätten in den Nachbarländern der Krisengebiete. Im Interview mit unserer Redaktion kritisiert er ein fehlendes Krisenkonzept der EU.

 Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) will Flüchtlingen Perspektiven in deren Heimat bieten.

Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) will Flüchtlingen Perspektiven in deren Heimat bieten.

Foto: dpa, nie cul tmk htf

Die große Zahl von Flüchtlingen macht den Städten zu schaffen. Welche Lösungen sehen Sie?

Müller Gerade Ostern ist doch die Zeit, sich auf seinen Weg zu besinnen und Menschlichkeit zu zeigen. Viele Gemeinden bei uns leisten Herausragendes. Deutschland hat derzeit rund 100.000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen. In kleinen Ländern wie dem Libanon oder Jordanien ist inzwischen aber jeder dritte Einwohner ein Flüchtling. Hier entstehen ganz andere Belastungen. Dort verstärken wir unsere Unterstützung. Bei uns in Deutschland müssen wir kreativer werden und weniger bürokratisch mit den Problemen umgehen. Deshalb freue ich mich, dass wir das deutsche Handwerk für eine Ausbildungsinitiative gewinnen konnten.

Was tut Deutschland in den Flüchtlingsregionen selbst?

Müller Allein im Libanon ermöglichen wir 80.000 Kindern den Schulbesuch. Wir investieren verstärkt in die Infrastruktur, in feste Flüchtlingsunterkünfte, in Schulen. Ein neuer Schwerpunkt wird die berufliche Ausbildung. Millionen syrischer Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche. Wir müssen sie dabei unterstützen, dass sie einen Beruf lernen und eine Ausbildung bekommen, damit sie in ihren Heimatregionen Perspektiven haben. Wenn wir diese Probleme nicht lösen, kommen die Probleme zu uns.

Wie wird Deutschland die aktuelle G 7-Präsidentschaft nutzen?

Müller Der G 7-Gipfel wird eine starke Vorlage liefern müssen für den Klimagipfel in Paris und den UN-Gipfel über einen neuen Weltzukunftsvertrag in New York. Es ist enorm wichtig, dass die Industrieländer mit ehrgeizigen Vorgaben vorangehen. Wir müssen eine gerechte Globalisierung auf den Weg bringen, eine neue Partnerschaft zwischen Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern. Ich freue mich deshalb, dass das Thema menschenwürdige Arbeit durch nachhaltige globale Lieferketten auf der Tagesordnung steht.

Was heißt das konkret?

Müller Die Jeans ist vom Baumwollfeld bis zum Bügel schnell einmal mehrere Tausend Kilometer unterwegs. Am Ende zahlen wir 100 Euro, die Näherin in Bangladesch bekommt aber nur zwei Euro. Wenn sie vier bekäme, könnte sie damit ihre Familie ernähren, ohne dass die Kleidung in Deutschland teurer werden müsste. Die Produktion verläuft außerhalb Europas noch viel zu sehr unter den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts, und das bedeutet häufig eine Ausbeutung von Mensch und Natur. Wir müssen vor allem Sklavenlöhne und Kinderarbeit beenden. Das kann nur mit weltweit geltenden neuen sozialen und ökologischen Mindeststandards gelingen.

Kann Angela Merkel das wirklich voranbringen?

Müller Ja, die Kanzlerin setzt einen starken Impuls, um die neue soziale Frage des 21. Jahrhunderts zu lösen. Wenn 20 Prozent der Menschen 80 Prozent der globalen Ressourcen für sich beanspruchen und wenn zehn Prozent 90 Prozent des weltweiten Vermögens besitzen, dann haben wir ein dramatisches Verteilungs- und Gerechtigkeitsproblem. Ungerechtigkeit und Armut sind immer auch Ursachen für Radikalisierung, Milizen, Krisen und Kriege. Deswegen muss es für uns höchste Priorität haben, zu einer neuen Partnerschaft zu kommen.

Hat es die nötige Priorität?

Müller Mein Ministerium hat mit 13 Prozent Aufwuchs den höchsten Haushalt seiner Geschichte. Wer in Entwicklungspolitik investiert, investiert in den Frieden. Gesellschaften, die aus der extremen Armut herauskommen, sind nicht mehr so anfällig für Konflikte.

Die Konflikte nehmen doch zu, hat also die Entwicklungspolitik versagt?

Müller Nein, wir müssen jeden Konflikt einzeln betrachten. Beispiel Nigeria: Hier sehen wir einen scharfen Gegensatz von Arm und Reich. Im Irak sind religiöse Toleranz und Achtung von Minderheiten ungeklärt. In Libyen hat man das Regime mit Bomben beseitigt und das Land dann sich selbst überlassen. Wir müssen Prozesse zu Ende denken und unseren Beitrag dazu leisten, dass sich funktionierende Staaten entwickeln können. Sonst füllen radikale Milizen dieses Vakuum. Mit großer Sorge denke ich deswegen an Afghanistan. Der Militäreinsatz hat die Welt annähernd tausend Milliarden Dollar gekostet. Jetzt geht er zu Ende, ohne dass die künftigen Strukturen geklärt sind. Alle, die sich militärisch engagiert haben, müssten sich jetzt auch viel stärker zivil engagieren.

Tut Europa genug?

Müller Es fehlt die europäische Flagge als zivile Friedensmacht im syrischen Bürgerkrieg, im Nordirak und auch in Zentralafrika. Europa muss seine Instrumente und sein finanzielles Engagement wesentlich ausbauen. Wenn die EU ein massives Wirtschafts- und Investitionsprogramm in zweistelliger Milliardenhöhe auflegt, aber erst nach monatelangem zähen Ringen eine Sondermilliarde für zivile Hilfe in den Flüchtlingsgebieten bereitstellt, dann zeugt das von einem krassen Missverhältnis. Die EU müsste mindestens zehn, besser 20 Milliarden in die Krisengebiete vor der eigenen Haustüre investieren, wenn sie als Friedensmacht ernst genommen werden will. Es ist eine Schande, dass das Welternährungsprogramm die Rationen demnächst halbieren muss und viele Familien in den Flüchtlingslagern gar nicht mehr versorgen kann, weil schlicht das Geld fehlt.

Was läuft schief?

Müller Die EU investiert in Wanderwege zwischen Tirol und Bayern und verlängert die Fördertöpfe aus den 90er Jahren einfach um sieben weitere Jahre. Aber wir haben keinen koordinierten und konzeptionell durchdachten Ansatz, die EU angesichts der dramatischen Krisenentwicklungen in Nordafrika und im Nahen und Mittleren Osten als Friedensmacht aufzustellen. Das Scheitern der französischen Mittelmeerinitiative darf nicht das letzte Wort bleiben.

Sollten Deutschland und Frankreich das in die Hand nehmen?

Müller Ich halte einen neuen Anlauf für eine Mittelmeerkooperation zwischen den nordafrikanischen Staaten und der EU für dringend notwendig. Das kann eine deutsch-französische Initiative sein, aber es muss ein europäisches Projekt werden.

Gregor Mayntz führte das Interview.

(may-)
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