Barcelona In Katalonien holt die Geschichte Spanien ein

Barcelona · Was die Menschen auf den Straßen Barcelonas bewegt, spiegelt ein nicht verarbeitetes Kapitel der Vergangenheit wider: die Franco-Ära.

Es scheint, als würde es nun geschehen. Tausende drängen sich vor dem Hauptquartier der Policía Nacional an der Via Laietana in Barcelona. Sie umringen schon die Einsatzwagen der nationalen Polizei. Die weißen Fahrzeuge sollen den Eingang wie Prellböcke gegen die von allen Seiten anbrandende Woge schützen. Schlimmer noch, die Masse bewegt sich nach vorne. Unzählige Münder schreien: "Policía, tortudadora, asesina!", Polizisten, Folterknechte und Mörder.

Die Demonstranten ziehen Schritt für Schritt den Belagerungsring um das Gebäude enger. Ein Kordon mit orangenen Westen und Helmen schiebt sich nach vorne. Aus Pfiffen wird Jubel. Es sind die uniformierten Helden der Revolution, die Feuerwehrmänner Kataloniens. Sie haben beim Referendum am 1. Oktober vor Wahlbüros Ketten gebildet, um Demonstranten vor der Guardia Civil und der nationalen Polizei abzuschirmen.

Ein Feuerwehrmann klettert auf eine Leiter. Der Mann breitet seine Arme aus. Die Menschen klatschen weiter, aber immerhin hören sie auf zu schreien. Von der gegenüberliegenden Seite ist keines seiner Worte zu verstehen. Aber etwas ändert sich. Die Masse drängt von den Einsatzwagen weg. Während der Feuerwehrmann von der Leiter steigt, ziehen schon andere Protestierende an dem Gebäude vorbei.

Über der Plaza Catalunya hängt ein Helikopter der Policía Nacional am Himmel, als hätte ihn dort jemand festgeklebt. Unten sitzen vier "Independistas" auf einem Mäuerchen. Wie es ihr derzeit gehe, könne sie schwer beschreiben, sagt die 27-jährige Laura Masnou. Die drei Männer um sie herum nicken. Ihre Freunde Carles Ruiz und David Sola leben wie sie in Barcelona und stammen wie sie aus dem Flecken Sant Quirze de Besora in der Provinz Barcelona. Aleix Freixas kommt aus Girona.

Alle vier nennen einen Grund, warum sie die Unabhängigkeit unbedingt wollen. Spanien lehne die Katalanen ab. "Wenn eine Familie ein Kind adoptiert und es immer nur schlecht behandelt, ist es logisch, dass es irgendwann mal von der Familie nichts mehr wissen will", meint der 29-jährige David Sola. Spanier und Katalanen scheinen für ihn nicht blutsverwandt zu sein.

Für die schlechte Behandlung Kataloniens durch die Spanier nennen die vier Demonstranten auf der Plaza Catalunya Beispiele, die in den Broschüren der Unabhängigkeitsbefürworter stehen. Madrid mache seit Jahren nichts, um die versprochene Bahnlinie entlang der Mittelmeerküste zu bauen, natürlich aus der Absicht heraus, Barcelona zu schwächen, ärgert sich David Sola.

Ob dies nicht auch mit der Schuldenkrise zu tun haben könnte? Sola winkt ab, dass Spanien nichts in die katalanische Infrastruktur investiere, sei schon immer so gewesen, meint er. Auf das Argument, die katalanische Nationalbewegung wirke auf viele Europäer wie der reiche Onkel, den der Geiz gepackt hat, reagieren die vier jungen Katalanen mit einem hilflosen Schulterzucken. Carles Ruiz scheint zu spüren, dass die Argumente der Unabhängigkeitsbewegung einem Ausländer schwer zu vermitteln sind. "Ich glaube, um das zu kapieren, muss man hier leben und die Geschichte verstehen", sagt er.

"Die Faschisten haben meinen Urgroßvater erschossen", erzählt Laura Masnou. Nach 1936 übernahmen die Anarchisten in Teilen Kataloniens die Macht und begannen zum ersten und einzigen Mal überhaupt, ihre Utopie umzusetzen. Wenige Jahren später endeten die Überlebenden in den Konzentrationslagern oder Massengräbern des Franco-Regimes. Ihre Familien in den Dörfern Kataloniens waren nach dem Sieg der Nationalen im Bürgerkrieg geächtet.

"Die Alten in unserem Dorf sagen uns, dass wir verhindern müssten, dass sich jetzt die Geschichte wiederholt", meint David Sola. Die damalige Demütigung hat sich tief in die katalanische Seele hineingegraben. Beides, Erniedrigung und Stolz scheint in vielen Familien offenbar von Generation zu Generation weitergegeben worden zu sein. Wenn Laura Masnou von ihrem ermordeten Urgroßvater spricht, redet sie im folgenden Satz von der Brutalität, mit der die Guardia Civil und die spanische nationale Polizei am 1. Oktober gegen Demonstranten vorgegangen seien. Als handle es sich beim einen um nichts anderes als die Fortsetzung des anderen.

Aktivisten wie Laura Masnou oder die Demonstranten an der Via Laietana rufen: "Policía, tortudadora, asesina!". Offenbar sind sie überzeugt, dass alle immer noch die gleiche Rolle spielen: Die Täter auf der einen, die Opfer auf der anderen Seite. "Wir sind bereit, das alles zu ertragen", sagt Laura Masnou. Es klingt wie ein Schwur, dem sie ihrem ermordeten Großvater leistet.

Maria Juher Layret meidet die Innenstadt von Barcelona, wenn die Anhänger der Unabhängigkeit auf die Straße gehen. Sie hat das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und der ist ihr heilig. Die 50-jährige Rechtsanwältin ist die stellvertretende Vorsitzende der "Resistencia civil", einer katalanischen Organisation, die gegen den Separatismus kämpft.

Juher Layret hat sich dann doch aufgemacht an die Carrer de Mallorca, um bei einem Milchkaffee zu erklären, warum sie die Panzer der spanischen Armee gerne vor den Modegeschäften und Starbucks-Filialen in der Innenstadt von Barcelona sehen würde. Wieder zieht ein Polizeihubschrauber seine Kreise über die Innenstadt von Barcelona. Das Dröhnen der Rotoren übertönt sogar den Verkehrslärm.

Sie warte darauf, dass auf ihrem Smartphone die Nachricht aufpoppt vom Erlass des Artikels 155 in Madrid, der die Selbstverwaltung Kataloniens suspendiert und die Regierung Puigdemont absetzt, sagt die Anwältin. Ja, zur Not müsse dann die Armee Recht und Ordnung wiederherstellen, erklärt sie. Juher Layret will keinen falschen Eindruck erwecken. "Ich bin Katalanin, und meine Familie ist es schon immer gewesen", sagt sie. Dennoch sei ihr Großvater überzeugter Anhänger der spanischen Krone gewesen.

Ja, es habe nicht nur Republikaner unter den Katalanen gegeben, sagt sie. "In meiner Familie gab es Anhänger von beiden Seiten. Überall gibt es doch Licht und Schatten. Wir dachten, wir hätten das abgeschlossen und schauten nach vorne", sagt sie. Die Klagen über ein Zuviel an Kontinuität zur vorangegangenen Diktatur hält die Anwältin für geschichtsfern. Doch das Ausmaß an Zorn, das sie selbst in den vergangenen Wochen erlebt hat, verunsichert sie. "Vielleicht war das mit dem friedlichen Wandel nach Francos Tod 1975 keine gute Idee. Denn jetzt holt uns alles ein, und es scheint fast so, als müssten wir alles noch einmal durchmachen."

Der deutsche Rechtsanwalt Albert Peters staunt im fünften Stock eines Bürogebäudes an der Avenida Diagona darüber, wie schnell sich ein Leben ändern kann. Noch vor Kurzem vertrat er als Präsident des "Kreises der deutschsprachigen Führungskräfte" deutsche Unternehmer in einer der führenden Wirtschaftsregionen Europas. Seit dem 1. Oktober ist er Ansprechpartner für verunsicherte Manager, die jeden Tag tiefer in den Abgrund schauen. "Das Ganze lässt sich nur noch mit der historischen Entwicklung erklären, mit der Franco-Zeit, mit Gefühlen", sagt Peters.

Der Wirtschaftslobbyist kennt den katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont persönlich. Fotos zeigen ihn mal mit ernstem Blick neben dem Regierungschef bei offiziellen Anlässen, mal sind beide lachend zu sehen. Peters zerstreut die Theorie, dass es dem Konservativen nur um ein möglichst gutes Geschäft mit Madrid gehe, vor allem in der Frage der Steuerhoheit. "Er meint, was er sagt. Er kommt aus einer Familie beinharter Nationalisten", sagt Peters. Da die Geister der Geschichte in Spanien aus der Flasche sind, werde es schwer, von beiden Seiten akzeptierte Vermittler zu finden. "Da die EU in Katalonien inzwischen nicht mehr als neutral gilt, und der König sich hinter Rajoy gestellt hat, bleiben vielleicht nur Persönlichkeiten aus den UN", sagt Peters.

Katalonien ein Fall für die Vereinten Nationen? "Die EU hat ja versucht, potenzielle Kriegsgebiete einzubinden und zu befrieden. Wenn sich zeigt, dass das nicht mehr gilt, haben wir ein Problem", sagt Peters. Der Wirtschaftsvertreter spricht von Krieg. Von draußen dringt leise das Dröhnen der Polizeihelikopter über Barcelona durch die isolierten Bürofenster.

(RP)
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