Gymnasium in Düsseldorf Flüchtlingskinder lernen 15 Stunden Deutsch pro Woche

Düsseldorf · In der Seiteneinsteigerklasse am Düsseldorfer Görres-Gymnasium lernen 22 Kinder aus Familien mit Flüchtlings- oder Migrationshintergrund Deutsch. Das soll die Schüler auf reguläre Klassen vorbereiten, bewirkt aber noch weit mehr.

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Wenn Melanie Haas ihrer Klasse eine Frage stellt, ist ein Arm immer oben: Muhammed meldet sich freiwillig in Übungen, will seine Hausaufgaben vorlesen und zeigen, dass er Deutsch kann. Der 14-Jährige kam Anfang des Jahres mit seinen Eltern aus Gambia, spielt Fußball im Stadtteilverein SV Oberbilk und hat einen Wunsch, der unter seinen Altersgenossen selten ist: "Ich hätte gerne mehr Unterricht."

Landesweit stehen die Schulen vor einer enormen Herausforderung: Allein in diesem Jahr müssen in NRW nach Schätzungen des Schulministeriums mehr als 40.000 Flüchtlingskinder zusätzlich in den Schulalltag neu integriert werden. Denn für alle in Deutschland Schutzsuchenden unter 16 Jahren gilt die allgemeine Schulpflicht, egal ob ihre Asylanträge anerkannt oder abgelehnt worden sind. Ihr Status spiele erst einmal keine Rolle, so eine Ministeriumssprecherin. Und die meisten Kinder sollen spätestens nach drei Monaten am Unterricht teilnehmen. Ob sie in reguläre Klassen gehen, hängt in der Regel von ihren Deutschkenntnissen ab. In den meisten Fällen kommen sie für die ersten Monate in Vorbereitungsklassen und erhalten speziellen Förderunterricht - so wie am Görres-Gymnasium in Düsseldorf.

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Seit Februar lernen in der "internationalen Klasse" von Haas Schüler aus Krisenregionen und Ländern wie Griechenland und China bis zu zwei Jahre lang intensiv Deutsch. Einen Monat vor ihrer Einschulung zogen Leonard (12) und Leonora (13) aus dem Kosovo nach Düsseldorf, die Libyerin Maram kam im August vergangenen Jahres. Ohne zu wissen, ob er ein Aufenthaltsrecht bekommen würde, erzählte ihr Vater der 13-Jährigen zunächst von einem "Urlaub". Doch Maram versteht, dass ihre Familie aus dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land geflohen ist.

An der Tafel stehen zwei Worte: "Der Dativ". Die Schüler lesen ihre Hausaufgaben in mannigfaltigen Akzenten vor, schnell wird klar: die deutschen Artikel und Personalpronomen haben es in sich. Haas ist geduldig, berichtigt, wo nötig, lässt die Klasse lesen und hat am Ende der Übungsrunde eine Überraschung parat: Mit Stethoskop und Pillenflaschen spielen die Schüler einen Arztbesuch nach, bei dem sie den Dativ gleich mit üben. Das kommt an, Muhammed meldet sich begeistert als Patient.

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Foto: dpa, fg jai

Neben Deutsch- gibt Haas den 22 Seiteneinsteigern zwischen zehn und 14 Jahren auch Kunst- und Sportunterricht. Von der Bezirksregierung sind zehn bis zwölf Stunden Deutschunterricht pro Woche angedacht, genauere Vorschriften gibt es weder zum Unterrichtsinhalt noch zur Regelung anderer Unterrichtsfächer. Haas glaubt, dass erste Schüler schon zu Beginn des kommenden Jahres in reguläre Klassen gehen können. Einige - darunter auch Muhammed - besuchen bereits jetzt den normalen Englischunterricht. "Je früher sie integriert werden, desto besser", sagt die Lehrerin. Mitschüler aus älteren Jahrgängen fungierten in den ersten Wochen als "Sprachpaten" und halfen bei der Eingewöhnung: "Sie gelten nicht als Sonderklasse. Die Schüler sind untereinander sehr offen", betont Haas.

Nicht an allen Schulen funktioniert die Integration so gut. Es fehle unter anderem an Lehrern, kritisieren Experten. Auch könnten nicht unbegrenzt Flüchtlinge auf die Klassen verteilt werden. Das störe den normalen Unterricht. Der Philologenverband NRW fordert deshalb eine Flüchtlingsquote für Schulklassen. Das sehen viele Eltern genauso. "Es können nicht unbegrenzt Flüchtlingskinder in die Klassen gesteckt werden", sagt die Vorsitzende des Elternvereins, Regine Schwarzhoff. Sie fordert mehr Anstrengungen des Landes: "Es müssen viele neue Lehrer eingestellt werden, die nur dafür da sind, den Flüchtlingskindern Deutsch beizubringen. Man könnte pensionierte Lehrer zurückholen." Auch Lehramtsstudenten seien dafür denkbar, sagt sie. Ähnliches will auch Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD), die im August mitteilte, dass 150 Beamte aus dem Kreise des Innenministeriums reaktiviert werden sollen.

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Foto: Hans-Juergen Bauer

Die bildungspolitische Sprecherin der FDP-Landtagsfraktion, Yvonne Gebauer, fordert, dass die Flüchtlingskinder noch schneller Deutsch lernen müssten als bisher. "Um ihnen eine gelingende Integration zu ermöglichen, muss die Förderung der deutschen Sprache so früh wie möglich ansetzen", sagt sie. Gebauer unterstützt die Forderung des Philologenverbandes. "Es muss sichergestellt sein, dass in Regelklassen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Flüchtlings- und anderen Kindern besteht", betont sie.

Die "internationale Klasse" ist bisher die einzige ihrer Art am Görres-Gymnasium - und das bleibt laut Schulleiterin Antonietta Zeoli auch vorerst so: "Wir sind ausgelastet." Von der Stadt erhielt die Schule nach einer Prüfung eine neue Stelle zugesichert, die Haas ausfüllt. Die Stadtverwaltung sei es auch, die entscheidet, ob weitere ähnliche Klassen folgen sollen. Die Seiteneinsteiger haben an der Schule kein eigenes Klassenzimmer, der Unterricht findet in einem Kursraum statt. Dennoch sehe das Gymnasium auch seine Verantwortung: "Es nützt nichts, auf das Gesetz zu pochen. Wir haben freiwillig mehr als die übliche Zahl von 19 bis 20 Schülern aufgenommen." Rund 60 Seiteneinsteigerklassen und Deutsch-Fördergruppen starteten in Düsseldorf in das Schuljahr 2015/16.

Für den Moerser Flüchtlingsbeauftragten Amar Azzoug besteht die größte Herausforderung nicht in der Integration der Kinder in den Schulalltag: "Viel schwieriger ist es, die vielen Jugendlichen ab 16 Jahren, die den weitaus größeren Anteil aller Flüchtlinge ausmachen, in den Arbeitsmarkt zu bringen", sagt er. Sie seien nicht schulpflichtig, und man könnte ihnen nicht vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Deshalb arbeitet Azzoug eng mit Berufsschulen zusammen. Dabei hat er vor allem eines gelernt: "Es bringt nichts, jugendliche Flüchtlinge einfach in Schulklassen zu stecken. Sie müssen das auch wollen", sagt Azzoug.

Die Seiteneinsteiger am Düsseldorfer Görres-Gymnasium wollen. "Sie waren von Anfang an hochmotiviert", sagt Haas. Über die Vergangenheit wollen die meisten zwar "eigentlich nichts erzählen", durch ihren Fleiß und Engagement im Unterricht werde aber klar, dass die Schüler "nach vorne schauen" möchten - auch, wenn sie sich bald von ihren Klassenkameraden trennen müssen.

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(RP)
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