Referendum in der Ukraine Manöver mitten im Chaos

Mitten in der größten Anspannung schlägt der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow ein nationales Referendum vor. Genau das fordern die Separatisten. Beobachter sprechen von chaotischen Zuständen in der Regierung in Kiew. Gibt sie den Osten auf?

 Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow droht und lockt zugleich.

Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow droht und lockt zugleich.

Foto: dpa

In Slawjansk herrscht angespannte Ruhe. Am Sonntag gab es hier Tote und Verletzte. Noch immer besetzen vermummte Kämpfer mit russischen Maschinengewehren Verwaltungsgebäude. Um 8 Uhr morgens lief das Ultimatum der Regierung in Kiew ab. Bisher folgenlos.

Am Sonntag hatte Übergangspräsident Turtschinow noch mit dem Äußersten gedroht, was der schwachen Regierung in Kiew zur Verfügung steht: Einem Einsatz aller nationalen Sicherheitskräfte unter Beteiligung des Militärs. Am Montag kündigte der ukrainische Übergangs-Präsident Alexander Turtschinow an: der Militäreinsatz findet statt. Die Lage in der Region Donbass werde "bald stabilisiert".

Bisher bleibt es bei Worten. Der Sturm auf die besetzten Gebäude blieb bislang aus. So wie schon in den vergangenen Tagen, in denen die Unruhen im Osten des Landes immer mehr zunahmen, prorussische Demonstranten mit Knüppeln und Baseballschlägern Fenster einschlugen und öffentliche Gebäude besetzten. Stets hielten sich die ukrainischen Einsatzkräfte zurück. Ernsthafter Widerstand gegen die Besetzer — Fehlanzeige.

Am Montag schlug Turtschinow vor dem Parlament überraschend andere Töne: Den Drohungen folgte ein Angebot: Ein Referendum über eine Umwandlung des Landes in eine Föderation könne man parallel zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai abhalten. Er sei "nicht gegen" eine solche Volksbefragung.

Dahinter steht ein geschicktes Kalkül

Eine Volksbefragung, genau das hatten die prorussischen Demonstranten immer lautstark gefordert. Pate dafür steht die Krim. Dort hatte sich in einer allerdings umstrittenen Abstimmung eine Mehrheit für den Anschluss an Russland ausgesprochen.

Dass der Übergangspräsident nun auf die Forderungen eingeht, nimmt Druck aus dem Kessel. Sein Vorgehen folgt offenbar einem strategischen Kalkül: Erstens setzt er die Separatisten politisch unter Zugzwang. Warum noch Gebäude besetzen, wenn es keine Zielen für den Protest mehr gibt?

Russlands Drehbuch

Zweitens nimmt der Schritt auch Russland den Wind aus den Segeln. Bisher schien der Verlauf genau einem Eskalations-Drehbuch aus dem Kreml zu entsprechen, wie es die Amerikaner zu kennen glauben: Erst Chaos stiften und dann als ähnlich wie auf der Krim die russisch-stämmige Bevölkerung vor den Angriffen der ukrainischen Faschisten retten.

Würde die ukrainische Armee jetzt eingreifen, könnte das tatsächlich als Steilvorlage für Moskau taugen. Russland hat bereits angekündigt, die russisch-stämmige Bevölkerung in der Ukraine schützen zu wollen und 40.000 Mann an der Landesgrenze zusammengezogen.

Der Kreml zeigt Interesse

Nun aber heißt es: Referendum. Auch wenn sich die Pläne dafür am Montag noch als reichlich unklare Angelegenheit darstellten, ging der Kreml auf das Angebot ein. Russlands Außenminister Sergej Lawrow forderte umgehend mehr Informationen.

Es sei im Interesse Russlands, dass die Ukraine als Ganzes erhalten bleibe, sagte er in Moskau. Die Bewohner des russisch geprägten Landesteiles müssten bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung einbezogen werden.

Genau das aber dürfte sich noch als Knackpunkt erweisen. Turtschinow geht offensichtlich davon aus, dass bei einem Referendum eine klare Mehrheit für den verbleib in der Ukraine stimmen würde. Das zumindest legen Umfragen nahe.

Kiew hätte eine Mehrheit

So zitierte etwa "Spiegel Online" aus einer Gallup Erhebung, nach der sich landesweit 74 Prozent im Osten gegen einen Anschluss an Russland aussprechen. Auch im russisch-sprachigen Süden und im Osten findet eine Loslösung von der Ukraine demnach keine Mehrheit. Dort fallen die Mehrheiten allerdings nicht so komfortabel aus: Im Süden sind es 69 Prozent, im Osten 53 Prozent.

Viele fühlen sich von der Regierung in Kiew nicht repräsentiert. Bisher hatte diese die Rufe nach einer stärkeren Föderalisierung zurückgewiesen, weil sie den Zerfall des Landes befürchtete. Nun die Kehrtwende. Offenbar hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass eine einheitliche Ukraine nur eine Zukunft hat, wenn sie ihren Regionen mehr Autonomie zugesteht.

Chaos in Kiew

Das Angebot liegt jetzt auf dem Tisch. Um es auszuarbeiten, bräuchte es vor allem Zeit und viele Gespräche mit allen Beteiligten. Doch angesichts der Spannungen in den östlichen Städten und bewaffneter Kämpfer bleibt es fraglich, ob dafür die Geduld reicht. Fast zeitgleich zur Rede Turtschinows griffen pro-russische Separatisten das Polizei-Hauptquartier in der ostukrainischen Stadt Horliwka an, wie Augenzeugen berichteten.

Hinzu kommen wachsende Zweifel an der Zuverlässigkeit der Regierung in Kiew. Nicht nur wegen des Schlingerkurses und bisher folgenloser Drohungen. Auch in der Personalpolitik macht sie einen bisweilen chaotischen Eindruck. So tauschte Turtschinow mitten in der Planung der groß angekündigten "Anti-Terror-Operation" den Leiter des Einsatzstabs aus. Der Präsident Turtschinow setzte den unlängst ernannten Witali Zyganok als Anti-Terror-Chef ab und ernannte Wassili Krutow zum Leiter der Einheit. Beobachter in Kiew sprachen von chaotischen Zuständen und demoralisierten Sicherheitskräften.

So bleibt auch ein weiteres Szenario für die Ukraine in der Welt, nach dem Kiew den Osten aufgeben könnte. Mit einem geteilten Land wäre sie gleich einen Haufen Probleme los: So stünde die russische Volksgruppe einem Anschluss an den Westen nicht mehr im Weg. Außerdem gilt der Osten der Ukraine, wo Kohle- und Schwerindustrie beheimatet sind, als schwarzes Loch, in das Jahr für Jahr Milliarden an Subventionen fließen.

Mit Material von Reuters

(pst)
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