Kolumne Berliner Republik Der Europawahl fehlt die Hürde der Vernunft

Sich fortpflanzen, einen Führerschein machen, ein Video bei Youtube einstellen – das steht jedem Bürger prinzipiell offen. Das Verfassungsgericht hat eine Möglichkeit hinzugefügt: Man kann eine Partei mit abwegiger Ausrichtung gründen und ins Europaparlament einziehen.

Sich fortpflanzen, einen Führerschein machen, ein Video bei Youtube einstellen — das steht jedem Bürger prinzipiell offen. Das Verfassungsgericht hat eine Möglichkeit hinzugefügt: Man kann eine Partei mit abwegiger Ausrichtung gründen und ins Europaparlament einziehen.

Während die Kanzlerin die Richtlinien der Politik bestimmt, hat das Verfassungsgericht schon oft genug der Politik in Sozial-, Finanz- und Sicherheitsfragen die Richtung vorgegeben. Manchmal waren die Politiker in Berlin sogar ganz dankbar, dass die Hüter der Verfassung die Entscheidungen trafen. Das jüngste Urteil des obersten Gerichts hat bei den etablierten Parteien allerdings zu viel Verdruss geführt. Bei der Europawahl am 25. Mai wird es keine Sperrklausel mehr geben. 0,5 bis ein Prozent der Stimmen dürften reichen, damit der Vertreter einer Partei ins Europa-Parlament einzieht.

Nun könnte man ja meinen, dass angesichts der großkoalitionären Bräsigkeit, die sich in Berlin breitgemacht hat, der Politik ein paar Frischzellen guttun. Doch das juristisch begründbare Urteil birgt ein hohes politisches Risiko. Wahrscheinlich werden die NPD, die Piraten und die Freien Wähler den Sprung nach Straßburg schaffen. Auch Republikaner, Tierschutzpartei, Familienpartei und die Rentner haben gute Aussichten, einen Vertreter ins EU-Parlament zu schicken. Den Gedanken der europäischen Einigung werden die Splitterparteien kaum stärken. Im Gegenteil: Sie könnten Motivation für andere Sektierer sein, in der Europapolitik künftig auszutesten, wie man mit abstrusen Ideen und öffentlichen Provokationen Aufmerksamkeit erregt und um Wähler wirbt.

Bislang sind Polit-Spinner meistens an der Realität des demokratischen Systems gescheitert, das nach Mehrheiten oder zumindest nach relevanten Minderheiten verlangt. Erinnert sei an die längst eingegangene Biertrinker-Union oder auch die Naturgesetzpartei, die manchem Wahlwerbespot-Gucker noch durch den im Schneidersitz hüpfenden Yogi in Erinnerung ist. Doch wer gerne über solche Kuriositäten lacht, kauft lieber eine Karte fürs Kabarett, als über Steuergelder Parteien zu finanzieren.

Das Problem bei den kleinen radikalen Parteien liegt darin, dass sie sich nicht scheuen, Tabus zu brechen. Im Gegenteil: Der Tabubruch ist mitunter Teil ihrer Marketing-Strategie. Mit dieser Taktik können sich die Kleinen in der öffentlichen Wahrnehmung ohnehin größer machen, als sie es nach ihren Zustimmungswerten sind. Die Etablierten hingen müssen sich an die Spielregeln halten, was meistens nicht so originell ist und für weniger Aufmerksamkeit sorgt als das öffentliche Foul-Spiel.

Doch am Ende braucht Politik vor allem Augenmaß, um die Bedürfnisse einer pluralistischen Gesellschaft zu regeln. Für das große, heterogene Europa gilt dies besonders. Deshalb war die Sperrklausel als Hürde der Vernunft so sinnvoll.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(qua)
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