Analyse Holland in Not

Den Haag · Seit 126 Tagen laufen in den Niederlanden die Koalitionsverhandlungen. Mittlerweile gibt es auch nur noch ein logisches Bündnis. Doch das hat sich bisher nicht zusammengerauft. Wo liegen die Probleme?

Nach Wahl 2017 in den Niederlanden
Foto: Ferl

Der niederländische Politikbetrieb gilt als international geachtetes Laboratorium. Doch trotz der Experimentierfreude, die dort an den Tag gelegt wird, schätzen die Abgeordneten Traditionen. An jedem dritten Dienstag im September findet zum Beispiel im Rittersaal im Den Haager Regierungsviertel der Prinzentag statt. Das Staatsoberhaupt, derzeit König Willem-Alexander, fährt mit einer goldenen Kutsche vor, und der niederländische Finanzminister trägt einen Koffer bei sich, der die Aufschrift "Dritter Dienstag im September" trägt. In dem Koffer befindet sich die "Miljoenennota", der Haushaltsplan für das kommende Jahr, über den das Parlament nach der Thronrede des Königs debattiert.

In diesem Jahr wird es allerdings höchstwahrscheinlich einen Bruch in der Tradition geben - und der hat mit den schleppenden Koalitionsverhandlungen zu tun. Denn für gewöhnlich stellt nach einer Wahl die neue Regierung auch den neuen Haushaltsplan vor. Ob es aber bis zum 19. September eine neue Regierung geben wird, ist äußerst fraglich. Und selbst wenn dem so wäre, bleibt nicht viel Zeit für ein frisches Finanzkonzept.

Seit nun 126 Tagen laufen die Sondierungsgespräche. Premier Mark Rutte ging mit seiner rechtsliberalen Volkspartei (VVD) Mitte März als Sieger aus der Wahl hervor. Die VVD kommt auf 33 der 150 Sitze im Parlament (minus acht). Eine extrem zersplitterte Parteienlandschaft zwingt Rutte jedoch in eine Koalition mit mindestens drei Partnern. Die Gespräche begannen zwischen der VVD, der christdemokratischen CDA, der linksliberalen D66 und Grün-Links unter dem 31-jährigen Shootingstar Jesse Klaver. Die VVD-Abgeordnete Edith Schippers wurde zur Verhandlungsführerin ernannt, zum "Informateur". Doch trotz anfänglicher Euphorie musste sie nach einigen Wochen eingestehen: Es geht nicht weiter. Die Verhandlungen waren festgefahren.

Grund dafür war die Flüchtlingspolitik. VVD und CDA plädieren für eine moderate Abschottung und wollen den EU-Flüchtlingsdeal mit der Türkei auf Nordafrika ausweiten. Davon hält Klaver überhaupt nichts. Er vertritt eine Willkommenspolitik, von der er partout nicht abweicht. "Klaver hält an seinen Prinzipien fest und stellt sie sogar über eine mögliche Regierungsbeteiligung", sagt Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität Münster. Diese Taktik habe jedoch zusätzlich mit Skepsis zu tun, meint Wielenga: "Regieren bedeutet auch verlieren. Klaver hat gesehen, was mit anderen Parteien, insbesondere mit der PvdA, passiert, wenn diese zu sehr von ihren Prinzipien abweichen und zu viele Kompromisse mit konservativen Parteien eingehen." Die sozialdemokratische PvdA, Ruttes ehemaliger Koalitionspartner, erlitt bei der Wahl eine herbe Pleite: Die Partei verlor drei Viertel ihrer Sitze. Ein derartiges Schicksal will Klaver nicht erleben. Mitte Juni hieß es darum: keine neuen Verhandlungen mit Grün-Links.

An Klavers Stelle rückte Gert-Jan Segers mit seiner Christenunion (CU). Eine Koalition aus VVD, D66, CDA und CU gilt nun als die wahrscheinlichste Variante, aber auch als die einzig verbliebene. Die restlichen Parteien sind entweder zu klein, oder ihre Gesinnungen passen nicht in den festen Verbund von VVD, D66 und CDA. Die rechtspopulistische PVV von Geert Wilders ist bei der Wahl zwar zweitstärkste Kraft geworden, doch eine Zusammenarbeit mit ihr schließen die meisten aus. Die Christenunion muss nun einfach irgendwie passen. Das neue Bündnis hätte eine Mehrheit von genau einem Sitz.

An der Zusammenführung von VVD, D66, CDA und CU hat sich mittlerweile aber auch der zweite Informateur Tjeenk Willink (PvdA) die Zähne ausgebissen. Richten soll es jetzt Ex-Finanzminister Gerrit Zalm (VVD). Dieser verglich die Verhandlungen zuletzt mit der Tour de France: "Wir haben schon einige Bergetappen hinter uns, aber wir sind sicher noch nicht in Paris." Zalm muss die Parteien vor allem bei folgenden Streitpunkten einen:

Arbeitsmarkt Die Koalition in spe will einige Bereiche reformieren, so etwa das Kündigungsrecht, den Versicherungsschutz von Freiberuflern oder das System der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Dafür setzt man auf eine Übereinkunft mit den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften. Doch die sind bisher skeptisch gegenüber einer rechtsliberalen Regierung.

Klima VVD und CDA unterstützen zwar das Pariser Klimaabkommen, doch wollen beide Parteien die darin vorgesehenen Schritte nicht so rasch umsetzen. CU und D66 wiederum wollen bei dem Thema aufs Gas treten.

Migration Auch ohne Grün-Links ist die Einwanderungspolitik ein heikles Thema. Die CU dringt auf neue Verhandlungen. Zusammen mit Mark Rutte arbeitet Gert-Jan Segers deshalb an einem Kompromissvorschlag.

Sterbehilfe Soll jeder selbst über sein Schicksal entscheiden können? Die Niederlande vertreten in der Frage eine sehr liberale Politik. D66 möchte es allen Menschen ab 75 Jahren ermöglichen, ihr Leben auf Wunsch von einem Arzt beenden zu lassen - auch wenn sie nicht krank sind. VVD und CU sind in der Sache konservativer eingestellt.

Die niederländische Zeitung "Volkskrant" griff die zähen Verhandlungen kürzlich in einer Glosse auf: Man solle VVD, CDA, D66 und CU doch in ein Hotel einquartieren, dort könnten die Beteiligten vier Jahre lang bis zur nächsten Wahl durchverhandeln. Die Wirtschaft boome, warum also nicht einfach mit der alten Regierung weitermachen, fragte der Autor.

"Ich glaube nicht, dass wir den Rekord von 1977 brechen", sagt Friso Wielenga, "aber wir kommen nah dran." Erst nach 208 Tagen stand damals eine Regierung. Es könnte also noch etwas dauern, bis Informateur Zalm endlich in Paris ankommt. Vor ihrer nächsten Bergetappe haben sich die Parteien jetzt aber erst einmal für zwei Wochen in den Urlaub verabschiedet - darüber war man sich übrigens schnell einig.

(jaco)
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