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Analyse NSA-Enthüllungen im Wochentakt

Berlin · Mit jeder Veröffentlichung bekommt die Spionage-Affäre neue Dimensionen. Offenkundig fehlt der Bundesregierung eine mutige Strategie, die Realität einer Welt offensiv zu vertreten, die Geheimdienstarbeit braucht.

Der NSA-Skandal dringt in immer mehr Dimensionen vor. Zu erkennen ist das an dem legendären Satz von Angela Merkel über das "Abhören unter Freunden". Im Herbst 2013 ergänzte sie ihn empört mit den Worten "... das geht gar nicht". Anderthalb Jahre und ein Dutzend Enthüllungen später ist sie vorsichtiger geworden und führt ihn mit den Worten "... das sollte nicht passieren" zu Ende. In den vergangenen acht Tagen sind zwei mögliche Ergänzungen hinzugekommen. Abhören unter Freunden betraf demnach viele weitere Regierungsstellen und reichte nach neuesten Erkenntnissen bis in die Zeiten der Merkel-Vorgänger Gerhard Schröder (SPD) und Helmut Kohl (CDU) zurück.

Durch die scheibchenweisen Enthüllungen hält die Plattform Wikileaks das Interesse der interessierten Öffentlichkeit wach. Wären sämtliche Dokumente, die offenkundig aus der Datensammlung des früheren NSA-Mitarbeiters Edward Snowden stammen, gleich im Sommer 2013 auf einen Schlag veröffentlicht worden, die Empörung wäre nicht viel größer gewesen, wäre inzwischen aber kaum noch der Rede wert.

Denn die Formulierung von US-Präsident Barack Obama als Reaktion auf den scharfen Merkel-Protest hat sich durch keine der nachfolgenden Enthüllungen infrage stellen lassen: dass die US-Geheimdienste die Regierungsspitze in Berlin derzeit nicht abhören und dies auch in Zukunft nicht tun würden. Das ist nicht durch die Erkenntnis der vergangenen Woche zu widerlegen, wonach vor ein paar Jahren auch Landwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) und die damalige Staatssekretärin Barbara Hendricks (SPD) sowie viele weitere Telefone in Kanzleramt, Finanz-, Wirtschafts- und Agrarministerium auf der Liste der NSA-Spähziele standen.

Und einen Erkenntnisfortschritt für Zukunft und Gegenwart bringt auch die jüngste Enthüllung nicht, derzufolge die NSA auch schon engste Mitarbeiter von Schröder und Kohl im Visier hatte.

Es ließe sich sogar aus US-Sicht erklären: Schröders Kurs im Irakkrieg mäanderte zwischen knallharter öffentlicher Ablehnung des Krieges selbst und praktischer entgegenkommender Unterstützung der US-Streitkräfte. Das war durchaus geeignet, mehr Informationen über die aktuelle und absehbare Strategie der Deutschen anzufordern. Und auch die Neugestaltung Deutschlands an der Nahtstelle von Nato und Warschauer Pakt musste das verstärkte Interesse der US-Dienste an den Hintergründen der Wiedervereinigungspolitik Kohls auf den Plan rufen.

Das Problem aus deutscher Sicht daran ist jedoch, dass sich alle Handelnden sehr bewusst waren, von Russen und Chinesen und weiteren Konkurrenten oder Gegnern rund um die Uhr ausspioniert zu werden, nicht jedoch von den engsten und vertraulichsten Freunden. Im kleinen Kreis zeigen sich Politiker fassungslos über diese "Ressourcenvergeudung", weil sie doch den amerikanischen Freunden gegenüber stets mit offenen Karten gespielt hätten und - wenn gewünscht - natürlich auch noch mehr, auch streng Vertrauliches, gegeben hätten. Wozu also ausspionieren?

Und so macht sich quer durch Parteien, Fraktionen und Ministerien das Gefühl breit, dass die Partnerschaft von Enthüllung zu Enthüllung neue Risse bekommt. "Die Gesamtheit der neueren deutsch-amerikanischen Beziehungen war schon immer größer als die Summe ihrer Teile, doch die NSA-Debatte droht dies zu überschatten", lautet die Analyse von Jackson Janes, dem Direktor des Deutschland-Forschungsinstituts in Washington.

Er verweist darauf, dass in den 40 Jahren deutscher Teilung geheimdienstliche Tätigkeit nie infrage gestellt worden sei. In der heutigen Welt habe sich an der Notwendigkeit nichts geändert. Doch der Wille, diese Realität anzuerkennen, sei in Deutschland geringer geworden. Das macht der amerikanische Wissenschaftler auch an der Bundesregierung fest, die "nicht zu einer offenen und ehrlichen Diskussion bereit" sei.

In der Tat lädt sie lieber als Zeichen der Missbilligung den US-Botschafter zum Gespräch ins Kanzleramt ein, wenn es neue Enthüllungen gibt, und verschanzt sich ansonsten hinter der Formel, dass es keinen Beweis für die Authentizität der Wikileaks-Veröffentlichungen gebe.

Ähnlich hatte schon der Generalbundesanwalt argumentiert, als er das Ermittlungsverfahren wegen der Ausspähung des Merkel-Handys einstellte. Da es nicht gelungen sei, das Dokument im Original zu beschaffen, sei eine "den Anforderungen der Strafprozessordnung genügende Bewertung nicht möglich". Zudem ließen sich aufgrund der Enthüllung weder Tatzeit noch Tatort oder Tatumstände sowie handelnde Personen präzisieren. Schließlich seien die Einlassungen amerikanischer Stellen, es werde nicht mehr abgehört, nur in der Öffentlichkeit als Schuldeingeständnis gewertet worden, den Vorgaben der Strafprozessordnung genügten sie hingegen nicht.

Gleichwohl bestätigte der Bundesgerichtshof auf Anfrage, dass der Generalbundesanwalt auch den beiden neuen Veröffentlichungen nachgehe, und zwar eindeutig "im Zusammenhang mit möglichen Spähmaßnahmen des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA mit Blick auf eine mögliche strafbare Handlung". Allerdings sei damit eine Entscheidung über eine Wiederaufnahme der Ermittlungen "derzeit nicht verbunden".

Wenn also die Justiz derzeit nicht kann und die Regierung nicht will, wer vermag dann das doppelt verlorene Vertrauen zwischen Deutschland und den USA und zwischen den Bürgern und den Diensten wiederherzustellen? Janes empfiehlt, dass die Abgeordneten des Bundestages und des Kongresses die Sache in die Hand nehmen, miteinander sprechen und voneinander lernen. Keine schlechte Idee. Zumal auch die US-Bürger die NSA-Datensammelwut zunehmend infrage stellen.

(RP)
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