Brüssel Schwere Zeit für Europa-Enthusiasten

Brüssel · Die EU ist im ständigen Krisen-Modus. Und in der Flüchtlingsfrage prallen die Egoismen aufeinander wie noch nie.

Jetzt funktioniert nicht einmal mehr das WLAN. Das zweite Krisentreffen in zwei Tagen zum Flüchtlingsdrama, und wieder haben die Journalisten im Brüsseler Ratsgebäude keine Internetverbindung. "Wer ist hier verantwortlich?" fragt ein entnervter "New York Times"-Korrespondent, der sich lauthals über die EU-Institutionen beschwert, die ja ganz offensichtlich gar nichts mehr gebacken bekämen.

Dieser Meinung sind viele Amerikaner schon seit den 70ern, als sich US-Außenminister Henry Kissinger darüber mokierte, er wisse gar nicht, wen er in Europa anrufen solle, falls es ein Problem gebe. Und auch die Unzufriedenheit der EU-Bürger mit ihrer Union hat in den Krisenjahren stetig zugenommen, wie die zahlreichen Wahlerfolge der EU-Gegner zeigen. Neu jedoch ist, dass die Bitterkeit auch in Brüssel Einzug hält. Am Sitz der europäischen Institutionen, wo für viele der Beruf zugleich auch Berufung ist und der Wunsch groß, das europäische Projekt voranzutreiben. Selbst hier haben Finanz-, Griechenland-, Ukraine- und Flüchtlingskrise ihre Spuren hinterlassen.

"Nach außen geht alles seinen gewohnten Gang", erzählt der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold über den Brüsseler Arbeitsalltag. Krise, Lösungsvorschlag der EU-Kommission, Streit darüber, Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Aber gerade die Flüchtlingskrise geht viel tiefer. Es geht letztlich um das Bild, das Europa von den Menschen, einer liberalen Demokratie und sich selbst hat, weshalb, so der Grüne, inzwischen "auch in Brüssel immer mehr Pessimismus zu hören" sei. Wo ein noch so kleiner Konsens von Verleumdungen und Verletzungen begleitet wird - wie im Sommer zu Griechenland und nun zu den Asylfragen -, steht irgendwann das große Ganze in Frage. "Wenn es nur noch mit der Brechstange geht", sagt der SPD-Abgeordnete Jens Geier, "weiß ich nicht, wie lange das noch gut geht." In 24 Monaten könne der Laden kaputt sein, warnt er.

Das traditionelle Brüsseler Botschafterfrühstück ist ein guter Gradmesser dafür, wie sich das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander verschlechtert hat. Ganz ohne Assistenten und Protokollanten ist hier immer offen über alle Probleme geredet, manches Missverständnis schon im Entstehen ausgeräumt und der ein oder andere Kompromiss vorbereitet worden. "Manche Kollegen sind in dieser Runde inzwischen auffallend still", erzählt einer aus dem Botschafterkreis, der eines der größeren Länder bei der EU vertritt, seinen Namen aber nicht in der Zeitung lesen will. "Wir haben Übung im Streiten", sagt er in Anspielung darauf, dass die Gemeinschaft als solche auf Interessenausgleich angelegt ist, "aber früher waren wir uns immer über das Grundsätzliche einig und haben nur über Ausnahmen, Übergangsregeln oder weichere Formulierungen gerungen." Nun jedoch geht es ans Eingemachte: "Es steht viel auf dem Spiel."

Ein belgischer EU-Beamter hat ganz ähnliche Erfahrungen in den Arbeitsgruppen gemacht, die Ratsentscheidungen auf Fachebene vorbereiten. "Wir Belgier sind die letzten Mohikaner: Wir haben zwar auch unsere Anweisungen, wieweit wir für einen Kompromiss gehen können, bekommen als Verhandler von unserer Regierung aber immer auch ein wenig Spielraum", erzählt der Mittvierziger. "Aber inzwischen lesen viele einfach wieder und wieder die Position vor, die ihnen aus den Hauptstädten übermittelt wurde." Harte Fronten statt heimlicher Flexibilität. "Mittlerweile sitzt bei fast jedem Thema ein Spinner im Raum, der mit seiner intellektuellen Vollnarkose eine Einigung blockiert - man kommt sich vor wie ein Hamster im Hamsterrad, bei dem es auch nicht wirklich vorangeht."

Der Frust ist besonders groß bei den Föderalisten, die in einem Bundesstaat, also in den Vereinigten Staaten von Europa, die Lösung sehen. Bei Philippe Lamberts zum Beispiel, dem Fraktionschef der Grünen im Europaparlament. Der Belgier steht zu seiner Überzeugung, obwohl sich aus seiner Sicht "alles in die andere Richtung bewegt" und der Zweifel an ihm nagt. "Viele meiner Wähler stellen in Frage, ob ich überhaupt noch die Möglichkeit habe, Europa in eine andere Richtung zu verändern", erzählt Lamberts, dessen Fraktion nur 50 von 751 Europaabgeordneten stellt, "und vielleicht haben sie recht."

Der SPD-Mann Jo Leinen gehört zur sogenannten Spinelli-Gruppe, die für ein vereintes Europa streitet. Nie hätte er gedacht, in seiner Heimatstadt Saarbrücken je wieder Grenzkontrollen in Richtung Frankreich erleben zu müssen - nun ist es wieder so weit: "Es geht ans Eingemachte, weil jeder nur noch an sich denkt." Der Abgeordnete konstatiert eine "Orientierungslosigkeit, wie es mit dem Projekt Europa weitergehen soll". Dessen Gegner befänden sich in der Offensive, "die Befürworter in der Defensive, ja sogar in einer Art Schockstarre".

Es gilt wohl, einen alten europäischen Fahrensmann zu treffen, um von einem anderen, viel positiveren Blick auf die Dinge zu hören. CDU-Mann Elmar Brok verspürt "keinen Frust, sondern Kampfeslust", weil für ihn die nächste große Krise die nächste Chance für Europa darstellt. Natürlich sei es mit 28 Staaten viel schwieriger als früher mit sechs oder neun, meint der Nordrhein-Westfale, doch erzwinge der Druck der Verhältnisse letztlich mehr Europa: "Unter Schmerzen bewegt es sich. Wir werden jetzt ein gemeinsames EU-Asylsystem bekommen, das die Mitgliedstaaten über Jahre abgelehnt haben." In der Finanz- und der Eurokrise ist es aus seiner Sicht ganz ähnlich gewesen: "Wir haben jetzt Regeln, die unser Bankensystem und unsere Währung stabiler gemacht haben - das ist doch ein fantastischer Erfolg."

So viel Begeisterung freilich ist selten geworden in Brüssel. Häufiger sind in seiner Politikblase rund um den Schuman-Kreisverkehr solche Berufseuropäer anzutreffen, die zwar unglücklich über das große Ganze sind, in ihrem kleinen Arbeitsumfeld aber ganz zufrieden. Wie eben jener SPD-Abgeordnete Geier, der davon berichtet, dass sich "auf der Arbeit alle zusammenreißen, konzentriert und kompromissbereit zu Werke gehen, weil sie wissen, was die Stunde geschlagen hat". Zusammenrücken also.

Auch ein deutscher Beamter, der im Ministerratsgebäude mit den leidigen Finanz- und Wirtschaftsproblemen kämpft, gesteht, dass er mit seiner Truppe - einem internationalen Team, gut ausgebildet und hochmotiviert - "viel Spaß bei der Arbeit" habe. "Da ist der Enthusiasmus ungebrochen, trotz der neuen Sklerose in Europa." Nach Brüssel sei er, der Deutsche, ohnehin nicht gekommen, um schnelle Erfolge zu feiern. "Europa ist ein sehr langwieriger Prozess", sagt er.

(RP)
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