Analyse Zaudern verboten

Die FDP in Nordrhein-Westfalen hat ein paar irritierende Pirouetten gedreht, ehe sie in die Koalitionsgespräche mit der CDU fand. Das mag strategisch zu erklären sein, aber Zögerlichkeit in der Politik ist verderblich. Fast immer jedenfalls.

Nichtstun ist Machtmissbrauch" - so warb die nordrhein-westfälische FDP um Wählerstimmen. Ein starker Spruch. Daneben war Christian Lindner zu sehen, selbst stets gut für einen starken Spruch. Dummerweise sah es nach der Wahl einige Tage lang so aus, als wollten ausgerechnet die Liberalen die Möglichkeiten politischen Nichtstuns ausloten - die CDU sei kein Wunschpartner, teilte Lindner mit, es gebe keine Lieblingskoalition, die Hürde liege hoch.

Die Erinnerung, dass früher einmal Schwarz-Gelb, sofern möglich, als selbstverständlich galt, ließ da die irritierte Frage aufkommen, ob sich hier jemand auf Kosten des Landes profilieren wolle. Immerhin, mit dem Start der Gespräche gestern ist klar geworden, dass man doch zur Tat schreiten will. Und Lindners rhetorische Pirouetten sind erklärbar - mit der Sorge, als Koalitionspudel der CDU zu enden, und wohl auch mit der Überraschung, dass Schwarz-Gelb als Möglichkeit am Wahlabend plötzlich vom Himmel fiel.

All das Vorgeplänkel zeigt aber ganz grundsätzlich, dass politisches Zaudern gefährlich ist. Gerade an NRW lässt sich das schön studieren: Die Bundestagswahl im September 2009 brachte ein schwarz-gelbes Bündnis an die Macht, das sich in aufgesetzter Einigkeit konstituierte, dann aber wichtige Entscheidungen verschob, um sich vor der Landtagswahl in NRW im Mai bloß nicht angreifbar zu machen. Dass man sich so erst recht angreifbar machte, sahen die Strategen nicht - die Landtagswahl ging für Schwarz-Gelb verloren.

2017 wählen Land und Bund wieder kurz nacheinander, nun ist NRW vorher dran. Wieder aber gibt es Wechselwirkungen, denn Lindner zieht es in die Bundespolitik, und als Politiker einer Regierungspartei im Land ist man naturgemäß exponierter als in der Opposition. Aber jetzt gibt es nun mal diese Koalitionsmöglichkeit in NRW, mehr noch: Schwarz-Gelb ist die einzige realistische, weil die SPD keine große Koalition will. Die FDP muss regieren, ein fast schon absurd klingender Satz.

Vieles ist erklärbar. Eins aber steht fest: Zögerlichkeit in der Politik ist fast immer verderblich, wenn man das Heft des Handelns in der Hand hat, also Wahlsieger ist oder an der Regierung. Als die NRW-Wahl 2010 unklare Mehrheiten brachte, verfiel SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft auf die Idee, sozusagen aus der Opposition zu regieren, gegen eine geschäftsführende Landesregierung der CDU. Die Grünen trieben Kraft diese Idee aus, mit dem Ergebnis des für Rot-Grün erfolgreichen Experiments Minderheitsregierung.

Auch die Bundespolitik liefert Anschauungsmaterial. Angela Merkel und Zögerlichkeit, das waren über Jahre Synonyme. "Ich brauche lange, und die Entscheidungen fallen spät", sagte Merkel 2016 über Merkel. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte hat ihren Regierungsstil "präsidentielles Zaudern" genannt und eingeräumt, das könne eine "machterhaltende Taktik" sein. Schließlich gewann Merkel 2009 und 2013 die Wahlen. Korte warnt aber auch: "Eine systematische Entschleunigung von politischen Prozessen ist kein genereller Ausweg aus den komplexen Entscheidungszumutungen." Und er zieht ein zweischneidiges Fazit: "Dieses Zaudern kann eine Komponente von Risikokompetenz sein. Sie ist hochriskant im Sinne des Machterhalts." Womöglich sogar fatal. Hätten an jenem Oktobersonntag 2008 Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück nicht die Sicherheit der deutschen Spareinlagen bekräftigt, hätte es möglicherweise tags darauf einen Bankensturm ungeahnten Ausmaßes gegeben.

Umgekehrt gilt: Was man nicht beeinflussen kann, das sollte einen nicht in Hektik stürzen. Merkel hat den Schulz-Effekt, der die Republik Anfang des Jahres für ein paar Wochen verrückt machte, einfach abperlen lassen, statt ihren Stil zu ändern.

Freilich ist Schnelligkeit auch nicht immer hilfreich. Bei der Energiewende 2011 nach der Fukushima-Katastrophe war Merkel blitzschnell - was ihr viele heute als Voreiligkeit ankreiden. Wieder anders liegt der Fall, der unauflöslich mit Merkels Kanzlerschaft verbunden bleibt: Zwar geschah auch die Grenzöffnung für die Flüchtlinge 2015 rasch, unter dem Druck dramatischer Ereignisse. Worüber sich aber die Republik dann bis aufs Blut zerstritt, war weniger dieser Akt als das Zaudern der Regierung in den Monaten danach, die Kontrolle über die Grenzen zurückzugewinnen.

Das Problem des Krisenmanagements ist ja meist nicht die Krise selbst, sondern der Umgang mit ihr, wie 2015. Zaudern, auch etwa das verzögerte Preisgeben von Informationen in Affären aller Art, heißt dann Salami-Taktik - und führt nicht selten in politische Lebensgefahr, siehe Christian Wulffs ungeschickten Umgang mit einer eigentlich läppischen Hauskredit-Sache.

Und Helmut Kohl? Der das "Aussitzen" als politische Technik praktisch erfunden hat? Auch er steht in den Geschichtsbüchern, weil er einmal beherzt zupackte, als sich die Möglichkeit der deutschen Einheit ergab. Innenpolitisch ist Kohls Bilanz weniger glorios - das "Wort des Jahres" 1997, ein Jahr vor Kohls Abwahl, lautete "Reformstau".

Nun kommt eine Gelegenheit wie die Einheit vielleicht einmal in 100 Jahren. Aber sie kam so unverhofft wie (im viel kleineren, landespolitischen Maßstab) die Chance auf Schwarz-Gelb. Der Politbetrieb des Jahres 2017 gleicht in der Schnelligkeit des Informationsflusses und der Aufregungszyklen einer Autobahn. Man kann das verurteilen, man muss jedoch damit umgehen. Auf der Autobahn aber gilt: Wer zögert, kommt nicht mit und läuft Gefahr, zum gefährlichen Hindernis zu werden.

Das ist keine Aufforderung zum Rasen, aber eine Warnung vor Schleicherei und vor Unentschlossenheit, etwa beim Überholen. Christian Lindner ist Liebhaber schneller Autos. Das mit dem Überholen dürfte ihm was sagen.

(fvo)
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