Stammtisch-Polemik bei Lanz Schiedsrichter-Logik mit Waldemar Hartmann

Meinung | Düsseldorf · Den Anpfiff wegen Werbung verpasst und zum krönenden Abschluss Polemik-Onkel Waldemar Hartmann, der mit abstruser Logik die Schuld für die Niederlage beim Schiedsrichter suchte: Nein, das ZDF hatte beim EM-Halbfinale wahrlich keinen guten Tag erwischt.

Waldemar Hartmann hatte den Schuldigen für die Niederlage schnell ausgemacht.

Waldemar Hartmann hatte den Schuldigen für die Niederlage schnell ausgemacht.

Foto: Screenshot ZDF

Das unglückliche Handspiel von Bastian Schweinsteiger, dem nach einem Kopfball von Patrice Evra der Ball an den nach oben gestreckten Arm gesprungen war, samt des anschließenden Elfmeters, der zur 1:0-Führung der Franzosen geführt hatte, war die Szene des Spiels. Und sie wurde heiß diskutiert.

"Es gibt diese Regel. Kopf und Hand gingen Richtung Ball. Ein Spieler kann nicht in einer Zehntelsekunde überlegen, wie er dabei die Hand wegnehmen kann. Es gibt Bewegungen in einem Zweikampf, die sind manchmal nicht zu kontrollieren", sagte Bundestrainer Joachim Löw, der über den Pfiff nicht glücklich war. "Ich habe versucht, hinzukommen. Ich kann leider nicht erklären, warum die Hand hochging", sagte Schweinsteiger. "Vielleicht war es einfach eine Reaktion, ein Reflex", meinte der 31 Jahre alte DFB-Kapitän zerknirscht: "Vielleicht ist da automatisch der Gedanke: Du willst den Ball irgendwie abwehren."

ZDF-Experte Oliver Kahn erklärte, es sei für ihn ein klarer Elfmeter, über die Entscheidung müsse man nicht diskutieren. Bei den amerikanischen Kollegen von ESPN sah es Michael Ballack genauso. Der Elfmeter sei "hundertprozentig" berechtigt: "Er ist zu spät dran. Und dann versucht er, mit der Hand zu korrigieren, sonst hätte er den Ball nicht erreicht." Die Schiedrichter-Experten von "Collinas Erben" bescheinigten Nicola Rizzoli, der vier Gelbe Karten an Deutschland und nur zwei an Frankreich verteilte, eine "souveräne" Leistung.

Diese Einschätzungen teilte Hartmann nicht. Ganz und gar nicht. Der Italiener Rizzoli nämlich, erklärte Hartmann nach dem Spiel in der Talkshow "Markus Lanz", habe den Elfmeter nur gepfiffen, weil er vor zwei Jahren im WM-Finale zwischen Deutschland und Argentinien den Südamerikanern vor der Weltöffentlichkeit einen Strafstoß verweigert hatte. Das, so Hartmann, habe der Referee lange mit sich herumgetragen und nun die Chance gesehen, den Fehler wieder gutzumachen. Außerdem erfolge die Schiedsrichter-Ansetzung durch Pierluigi Collina ("Das ist dieser Glatzkopf. Die Haare sind immer noch nicht gewachsen."). Hartmann habe sich bei der Ansetzung gedacht: "Schau dir das an. Wir haben die Italiener rausgehauen und er teilt den Rizzoli ein."

Auf die Verschwörungstheorie folgte dann die Logik à la Lanz-Runde. Man könne den Elfmeter geben, "aber doch nicht in der 44. Minute!", sagte Hartmann. TV-Moderatorin Andrea Kaiser pflichtete ihm bei, Stimmen-Imitator Matze Knop legte nach: "Aber doch nicht in einem Europameisterschafts-Halbfinale!"

Hartmann fand noch andere Gründe, warum der Elfmeterpfiff falsch war. Die Franzosen hätten gar kein Handspiel reklamiert. "Die haben den Elfmeter doch gar nicht kapiert, die haben den geschenkt bekommen. Herzlichen Glückwunsch, Herr Rizzoli", echauffierte sich Hartmann. Und sogar Toni Kroos, "das Lamm schlechthin", sei völlig außer Rand und Band gewesen. Da kann der Pfiff ja nicht richtig sein.

Zudem stellte die Runde die These auf, Rizzoli habe das Handspiel gar nicht sehen können, deshalb habe er so lange gezögert. Es sei falsch, sich in so einem wichtigen Spiel auf den Linienrichter zu verlassen. Die Zeitlupe zeigt allerdings eindeutig, dass unter anderem der Franzose Olivier Giroud sehr wohl sofort ein Handspiel reklamiert hatte und dass Rizzoli keineswegs lange gezögert, sondern schnell auf Elfmeter entschieden hatte.

Aber immerhin, dass Kroos sich aufgeregt hatte, stimmte. Im Interview nach dem Spiel war der Mittelfeldspieler aber wieder gewohnt nüchtern, als er über die Szene sprach: "Wir geraten wieder nach so einer blöden Aktion in Rückstand", analysierte Kroos. Schon im Viertelfinale gegen Italien war den Azzurri der Ausgleich nach einem Handelfmeter gelungen.

Nun ist die Talkshow von Markus Lanz keine bierernste Analyse-Runde, Stammtisch-Geplauder ist geduldet, wahrscheinlich sogar ausdrücklich gewünscht. Erschreckend ist es jedoch, wenn sich ein Sportjournalist wie Hartmann, der lange Zeit die Nationalmannschaft als Chefreporter begleitet hat, an die Spitze des polemischen Schiedsrichter-Bashings inklusive latenter Italien-Ressentiments stellt, obwohl er Schiedsrichter-Schelte nach eigener Aussage "eigentlich" ungern betreibt.

Zu allem Überfluss leistete sich Hartmann dann auch noch eine gönnerhafte Bemerkung Richtung Kahn. "Er hat eine wunderbare EM hinter sich. Ich habe mich gefreut für ihn, weil er immer richtig lag. Dass er jetzt zum Schluss einmal nur halb richtig lag, verzeihe ich ihm." Die ganze Aufregung wegen eines "halb richtigen" Pfiffs?

Schon als Nationalmannschaftsreporter hatte Hartmann einen sehr jovialen Stil geprägt, sich selbst bezeichnete er als "Duz-Maschine", weil er Interviewpartner selten mit "Sie" ansprach. Seit er nur noch als Talkshowgast — abwechselnd bei Lanz und im Sport1-Doppelpass — im Fernsehen auftritt, ist Hartmann aber endgültig jegliche Distanz und Reflexion abhanden gekommen. Hartmann wechselt zwischen kneipentauglichen Fußball-Anekdoten und Stammtisch-Parolen. "Weißbier-Waldi" ist von seinem eigenen Spitznamen, der nach Rudi Völlers legendärem Wut-Interview geprägt wurde, eingeholt worden.

Der misslungene Auftritt von Hartmann passte ins Bild, das das ZDF an diesem Abend abgab. Den ersten Aufreger gab es schon zu Beginn. Wegen einer Werbeeinspielung verpasste der Sender aus Mainz mal eben den Anpfiff und die ersten zehn Sekunden des Spiels. Und fing sich dafür einiges an Häme und Wut ein. "Das nehmen wir auf unsere Kappe", sagte Sender-Sportchef Dieter Gruschwitz zur "Bild": "Der Werbetrailer ist zu spät eingespielt worden."

(areh)
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