Proteste in Brasilien Wir lieben Fußball, wir hassen die WM

Salvador da Bahia · Rund zwei Wochen vor Beginn des großen Turniers wendet sich eine Mehrheit der Brasillianer gegen das Milliarden-Spektakel. Der Frust über das Verschwenden von Steuergeldern und das elitäre Gehabe einiger Politiker und Funktionäre sitzt tief. Das Land gleicht einem Pulverfass.

Ein Toter bei Unruhen in Rio de Janeiro
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Wenn Jogi Löw und sein Team am 16. Juni im Fonte Nova Stadion in Salvador da Bahia ihr erstes WM-Spiel gegen Portugal bestreiten, wird Maria (Name geändert) vor der neu erbauten Arena demonstrieren. So nah wie möglich will die 20-Jährige an das von der Militärpolizei gesicherte Stadion gelangen. Vielleicht wird sie Tränengas einatmen, vielleicht wird sie von einem Polizeiknüppel oder einem Gummigeschoss getroffen werden, vielleicht wird sie Steine auf die Polizei werfen. Maria liebt Fußball, aber sie hasst, was die brasilianische Regierung und der Fußball-Weltverband Fifa aus der WM machen wollen. Maria ist kein Einzelfall.

Als Brasilien im Oktober 2007 den Zuschlag für die Weltmeisterschaft 2014 bekam, schwappte eine Welle der Euphorie durch das Land. Die Fans hofften, dass ihr Team zu Hause den Titel holen würde; die Bürger hofften, dass sich durch Investitionen die Lebensbedingungen für die rund 200 Millionen Einwohner verbessern würden. Der damalige Präsident Lula da Silva, der dazu beigetragen hatte, das einst als fast hoffnungslos abgeschriebene Brasilien unter anderem durch Rohstoffexporte zur mittlerweile siebtstärksten Wirtschaftsmacht der Welt zu machen und mit Sozialprogrammen Millionen aus der Armut zu führen, weinte vor Glück. Doch jetzt herrscht fast im ganzen Land Kater statt Partystimmung.

Soldaten sichern deutschen WM-Spielort Salvador da Bahía
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Um Platz für WM-Bauten zu schaffen, wurden Tausende Menschen umgesiedelt. Oft gegen ihren Willen. Dennoch werden viele der angekündigten Bauvorhaben gar nicht oder erst in letzter Sekunde fertig werden. Nie zuvor ist ein WM-Land so in Verzug geraten. Die durch Spezialeinheiten der Militärpolizei angekündigte "Befriedung" der gefährlichen Armenviertel, in denen Drogengangster das Regiment übernommen hatten, gelang nur teilweise und unter Einsatz heftiger Gewalt. Auch Unschuldige wurden dabei getötet. Viele Favela-Bewohner, die die Aktionen zunächst begrüßten, klagen mittlerweile, dass die teilweise korrupten Polizisten oft erst schießen, dann fragen. Immer wieder wird den Sicherheitskräften Rassismus vorgeworfen, denn die Opfer sind meist junge, schwarze Männer.

Während er der WM gelten die "Fifa-Gesetze"

Eine Tour durch Rios Favelas
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Die Situation in vielen staatlichen Krankenhäusern ist katastrophal, in der internationalen Pisa-Studie belegt Brasilien den 58. von 65 Plätzen, immer wieder kommt es zu Stromausfällen, viele Arbeiter verbringen jeden Tag Stunden in überfüllten Bussen und Bahnen, um zur Arbeit zu kommen. Trotzdem wurden Verbesserungen im Gesundheits-, Bildungs- und Infrastrukturbereich gar nicht, verspätet oder nur halbherzig angegangen.

Weil die Regierung sich bemüht, die Forderungen der Fifa einzuhalten und dabei oft die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung vernachlässigt, unterstützt das evangelische Hilfswerk "Brot für die Welt" derzeit 49 Projekte in dem Schwellenland, aus dem sich viele Hilfsorganisationen bereits zurückgezogen haben. Gefördert werden neben der ländlichen Entwicklung unter anderem Programme gegen Gewalt, insbesondere gegenüber Frauen und Kindern. Gerade jetzt, vor der WM. "Die Regierung will auch die friedlichen Proteste gegen die WM schon im Keim ersticken. Wir unterstützen deshalb jene bei der Einforderung ihrer verfassungsmäßigen Rechte, die am stärksten darunter leiden, dass die versprochenen Verbesserungen in Gesundheits-, Bildungs-, Infrastruktur- und Sicherheitsbereich nicht eingehalten wurden", sagt Fátima Nascimento, Koordinatorin einer brasilianischen Partnerorganisation von "Brot für die Welt".

Die Spielorte der Fußball-WM 2014
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Foto: AFP

Der Protest der Brasilianer richtet sich nicht nur gegen die eigene Regierung, sondern auch gegen die Fifa. Viele empfinden die Funktionäre mit ihren teuren Anzügen und ihren rigorosen Vorschriften als moderne Kolonisatoren, die gekommen sind, um gewaltige Gewinne abzuschöpfen. Denn während der WM gelten in Brasilien die sogenannten Fifa-Gesetze, die dem Fußballverband und seinen Sponsoren unter anderem exklusive Verkaufszonen und die Befreiung von jeglichen Abgaben einräumen. Vor einem Jahr waren laut Meinungsforschungsinstitut Datafolha noch 65 Prozent der Befragten für die WM, im April lag die Zustimmung nur noch bei 48 Prozent. Mehr als die Hälfte der Befragten stimmt mittlerweile den Protesten im Land zu.

Regierung reagiert zunehmend dünnhäutig

"Es wird keine Weltmeisterschaft in Brasilien geben", rufen die Demonstranten, und es klingt wie eine ernstzunehmende Drohung. "Es wird die beste Weltmeisterschaft aller Zeiten", sagt Präsidentin Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei PT, und es klingt wie das Mantra einer Mentaltrainerin, die den Glauben an sich selbst verloren hat. Auf Kritik reagiert die Regierung immer dünnhäutiger, verweist stattdessen unter anderem auf die zahlungskräftigen WM-Besucher und Tausende neue Arbeitsplätze. Die Präsidentin, die Fifa und einige wenige, denen die WM jetzt schon volle Taschen beschert hat und die auf weitere gute Geschäfte mit dem Fußball hoffen, verbreiten noch Zweckoptimismus. Der Fußball soll dabei als sozialer Kitt dienen, der die Gesellschaft trotz gewaltiger Ungleichheit zusammenhält, das Turnier als Brot und Spiele, die die Konflikte überdecken sollen.

Beim Confederations-Cup, der WM-Generalprobe vor einem Jahr, hat der Sport diese Funktion nicht erfüllen können. Im Gegenteil: Was als Protest gegen Fahrpreiserhöhungen bei Bussen und Bahnen in São Paulo begann, weitete sich schnell zu landesweiten Protesten unter anderem gegen die WM aus, die viele Brasilianer als gewaltiges Geldverprassungs- und Korruptionsspektakel empfinden. Die Fifa hatte acht WM-Stadien gefordert, doch die brasilianische Regierung wollte lieber zwölf bauen. Auf den Baustellen kamen bislang acht Arbeiter ums Leben, und nach der WM werden einige der Arenen wohl kaum genutzt werden. Die Austragungsorte Manaus, Cuiabá und Brasília haben noch nicht mal einen Zweitligaclub.

Ex-Präsident Lula hatte den Brasilianern versprochen, dass die Kosten für die von der Fifa geforderten Stadien von privaten Sponsoren getragen werden würden, tatsächlich bleibt ein großer Teil nun an den brasilianischen Steuerzahlern hängen. Wie teuer die WM das Land wirklich zu stehen kommt, sagt die Regierung nicht. Wahrscheinlich, weil sie es selbst noch nicht beziffern kann. Unter anderem die Wut über die ausufernden Kosten führte beim Confederations-Cup vor einem Jahr mehr als eine Million Menschen auf die Straße. Es gab Tote. Die oft nur lose verbundenen Aktivisten hoffen jetzt auf genau das, was Regierung und Fifa befürchten: Dass sich die Proteste während der WM wiederholen.

(RP)
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