Tischtennis-Star Timo Boll "Olympia macht mich gierig"

Düsseldorf · Nach Knie-Operation und Erkältung kämpft Deutschlands Ausnahme-Tischtennisspieler Timo Boll um seine Top-Form. Derzeit steht er mit Borussia Düsseldorf im Halbfinale um die Deutsche Meisterschaft. Vom 12. bis 16. April geht es zum Olympia-Qualifikationsturnier im schwedischen Halmstad.

Tischtennis-EM 2012: Bolls historischer Triumph
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Über Verletzungen sprechen Sie nicht gerne. Ich frage mal so: Belastet solch eine Phase den Kopf nachhaltig? Nach dem Motto: Hoffentlich kommt nicht bald der nächste Stolperstein.

Timo Boll Man ist im ersten Moment schon überrascht, wie die Form ist, wie das Ballgefühl ist. Der Touch ist nicht mehr da. Ich muss dann sehr viel investieren, um wieder an mein Niveau zu kommen. Aber mittlerweile habe ich genug Erfahrung mit längeren Pausen und Verletzungen. Somit geht es zügig, zumindest wieder ein anständiges Niveau zu erreichen. Über eine längere Trainingsphase kann man dann auch wieder auf absolutes Top-Niveau kommen.

Wie ist denn das aktuelle Befinden?

Boll Gut, ich bin voller Tatendrang. Die Pause war seit vergangenem September ja lang genug. Jetzt blicke ich nach vorne Richtung Play-offs und Olympia. Ich werde jeden Tag nutzen.

Bei wie viel Prozent Ihrer Leistungsstärke sehen Sie sich derzeit?

Boll So bei 70 Prozent etwa. Ich habe noch ein bisschen Luft nach oben. Tischtennis ist ein sehr komplexer Sport. Es geht bei vielen Dingen um ein paar Millimeter — gerade bei Winkelpositionen. Da kann man einige Prozente noch herauskitzeln. Man muss sich einfach die Zeit geben. Ich erwarte momentan nicht, dass ich vom Allerfeinsten abliefere.

Hört sich mathematisch an.

Boll Es ist sehr physikalisch. Wenn man darüber nachdenken muss, ist es aber schon zu spät. Man muss sich diese Bewegungsabläufe extrem anarbeiten im Training, damit es in Fleisch und Blut übergeht. Das ist harte Konzentrationsarbeit.

Ist dann eine Verletzungspause nicht von Vorteil, um auch mal wieder Ruhe in den Kopf zu bekommen?

Boll Man hat danach auf jeden Fall viel mehr Lust, daran zu arbeiten. Es ist einfach anstrengend — körperlich klar, aber vor allem mental. Wieder auf das athletische Niveau zurückzukommen, ist der einfachste Teil. Es ist vermutlich wie im Schach. Wenn man ein halbes Jahr nicht mehr gespielt hat, muss man sich die Züge und Kombinationen wieder reinholen.

Wie ist es denn dann mit dem Alter? Sie sind 35. Überwiegt die Freude über Erfahrung oder der Ärger über das Zwicken der Muskeln und Gelenke?

Boll Bei mir war die OP am Knie ja fast freiwillig, um größeren Schaden zu vermeiden. Aber es hat mich schon sehr geärgert. Ich war im vergangenen Sommer in der chinesischen Liga vielleicht so gut drauf wie noch nie, kam mit reichlich Selbstvertrauen zurück und wollte in der Olympia-Saison voll angreifen. Aber es hat einfach Sinn gemacht, die Hautfalte zu entfernen. Es ging darum: Bis Olympia durchziehen und einen Totalschaden riskieren oder sofort reagieren. Ich habe die Sicherheitsvariante gewählt.

Heute noch zufrieden mit der Entscheidung?

Boll Klar trauert man der extremen Form hinterher. Es war natürlich einfacher diese so in China aufzubauen. Dort hat man super Trainingsbedingungen und alle drei Tage Wettkämpfe gegen Top-Leute. Das ist schwer zu simulieren. Aber wir versuchen, es zu kopieren.

Wie sieht denn der Schlachtplan bis Rio aus?

Boll Gerade beginnt die Phase, in der man konditionell mehr macht, um eine Basis zu legen. Die Trainingslager gehen dann im Juni los. Bis dahin sollte man ein hohes athletisches Grundniveau haben, um am Tisch hohe Umfänge abspulen zu können. Und ich nutze die Play-offs mit Borussia, um Wettkampfpraxis zu sammeln.

Wie bewerten Sie Ihre Chancen, würden Sie jetzt auf den chinesischen Spitzenmann Ma Long treffen?

Boll Gegen Ma Long bewertet derzeit jeder seine Chancen niedrig. Er ist momentan herausragend.

Und wenn es bei Olympia zum Aufeinandertreffen kommt?

Boll Er ist auch einer, der schon mal ins Zittern gekommen ist. Man behauptet schon jahrelang, dass er der beste Spieler ist. Aber bei großen Turnieren hat er das dann oft nicht abrufen können. Eine Medaille bei Olympia fehlt ihm noch. Das ist auch ein spezielles Turnier.

Ihnen fehlt auch noch eine Medaille im Einzel bei Olympia...

Boll (lacht) Ja, das stimmt. Es wäre daher nicht so schön, schon im Viertelfinale auf ihn zu treffen. Eher im Finale. Dann können wir uns beide freuen. Wir verstehen uns ja sehr gut.

Wie groß ist denn die Sehnsucht nach dieser Medaille?

Boll Sie motiviert mich auf jeden Fall und macht mich richtig gierig. Diese Gier braucht man im Training, um die letzten Prozente herauszukitzeln.

Wie groß wäre die Enttäuschung, wenn Sie Ihre Karriere ohne Olympia-Medaille im Einzel beenden müssten?

Boll Ich muss auf jeden Fall das Gefühl haben, dass ich alles gegeben und alles probiert habe, für diesen Erfolg. Wenn es manche Umstände dann nicht zulassen, akzeptiere ich das und bin keiner, der einem Titel dann nachtrauert. Die anderen können halt auch Tischtennis spielen. Ich bin keiner, der dann todtraurig zu Hause in der Kammer sitzt.

Jan-Ove Waldner hat seine Karriere — zugegeben nicht mehr auf Top-Niveau — dieses Jahr mit 51 Jahren beendet. Können Sie sich vorstellen, auch so lange zu spielen?

Boll Ja. Wenn es mir bis dahin noch Spaß macht.

Also Sie machen es nicht vom Erfolg, sondern vom Spaß abhängig?

Boll Ich mache es nicht vom Niveau abhängig, sondern es geht darum, dass der Körper noch durchhält. Ich will mich nicht jeden Tag in die Halle quälen müssen und Tabletten einwerfen. Aber wenn es körperlich geht, bin ich mir sicher, dass es mir auch noch Spaß macht.

Tischtennis-Deutschland muss sich also keine Sorgen machen und wird Sie noch eine Weile an der Platte sehen?

Boll Ja. Ich ökonomisiere und versuche, meinen Körper bis zum geht nicht mehr zu pflegen. Ich will möglichst lange spielen.

Bei der WM im März sah das deutsche Team historisch schlecht aus. Was muss sich bis zur WM in Düsseldorf 2017 ändern?

Boll Wir müssen erstmal alle gesund sein. Um unsere hohen Ziele zu erreichen, muss alles passen. Wenn die Leistungsträger ausfallen, hat das Auswirkungen — wie überall. Zudem muss hinten was nachkommen. Daran müssen wir arbeiten. Dimitrij Ovtcharov ist auch bald 30.

Sie sagen "wir". Wollen Sie da aktiv mithelfen?

Boll Noch nicht. Aber ich spreche ja gerne fürs deutsche Tischtennis. Und ich hoffe, dass da bald mal wieder ein großes Talent kommt, mit dem man die Chance hat, zu arbeiten, um auf ein gewisses Niveau zu kommen. Das schafft man nicht mit jedem.

WM in Düsseldorf. Ist das eine WM wie jede andere?

Boll Ich habe ja schon einige EM und WM in Deutschland hinter mit. Aber Düsseldorf ist schon noch mal etwas Spezielles.

Zuletzt haben Sie in der "FAZ" über illegale Methoden der Präparierung von Schlägerbelägen bei der Konkurrenz gesagt: "Tischtennis ist meine Liebe und die betrügt man nicht". Die Chinesen sehen das mit der Moral nach Ihrer Ansicht wohl etwas lockerer, oder?

Boll Ich hab das gar nicht auf die Chinesen abgezielt, sondern insgesamt auf die Spieler unseres Sports. Die Moral der meisten Menschen ist nicht so hoch — leider. Und Materialbetrug ist der einfachste Weg, um ein paar Prozente mehr herauszukitzeln.

Wenn andere Ihre "große Liebe" betrügen, muss Sie das aufregen. Wie gehen Sie damit um?

Boll Klar, regt es auf. Wenn man sich an die Regeln hält und merkt, dass man dadurch einen Nachteil hat. Und das dann vorher auch intern anspricht und allen Zeit gibt, daran etwas zu ändern oder es geradezurücken. Es passiert aber nichts. Dann wird man innerlich wahnsinnig. Es ist aber kein Grund, meinen Weg zu verlassen. Das ist es nicht wert.

Intern angesprochen, öffentlich angesprochen. Es handelt aber niemand. Wie kann das sein?

Boll Ich hoffe nicht, dass es wieder ausgesessen wird. Es muss was passieren. Oder sie ändern die Regeln. Dann kommt man wieder zu irgendwelchen giftigen Stoffen. Keine Ahnung. Es muss einfach Chancengleichheit da sein.

Werden Sie dafür weiter kämpfen?

Boll Intern ja. Ich werde das nicht jede Woche im Interview wiederholen. Aber intern werde ich an Lösungen arbeiten. Wir haben auch schon gute Optionen. Aber um Änderungen zu bewirken, braucht man 75 Prozent aller Mitglieder der ITTF (internationaler Tischtennis-Verband, Anm. d. Red.). Jedes der 222 Länder hat eine Stimme.

Geht es darum, mehr zu erlauben oder zu verbieten?

Boll Verbieten. Es soll ein anderes Zulassungs- und Testverfahren geben. Da weiß dann auch der Hobbyspieler: So, der Profi spielt den oder den Belag. Und den kann ich genau so im Shop kaufen. Es glaubt mir ja momentan überhaupt kein Mensch, dass ich stinknormales Material aus dem Laden spiele. Jeder denkt, ich hätte eine Sonderproduktion oder getuntes Material vom Sponsor. Nein, es kann man so im Shop kaufen.

Ist das Material aus dem Laden denn nicht gut genug?

Boll Es ist gut. Ich kann ja mithalten.

Patrick Scherer führte das Gespräch.

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