Eurovision Song Contest Inklusion und Punkrock

Wien · Eigentlich wollen sie gar nicht auffallen. Doch genau das werden die finnischen Punkrocker von Pertti Kurikan Nimipäivät (deutsch: Pertti Kurikkas Namenstag) im ersten Halbfinale des 60. Eurovision Song Contest in Wien am Dienstagabend (21 Uhr, Phoenix) tun. Die vier Bandmitglieder mit unterschiedlicher geistiger Behinderung entsprechen keinerlei ESC-Klischee.

ESC: PKN aus Finnland – Band mit Down-Syndrom
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PKN aus Finnland – Band mit Down-Syndrom

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Foto: afp, DN/agz

Vom Wohnheim auf die große Bühne — für die gestandenen Musiker ist dies längst kein Kulturschock mehr. Das Quartett parliert munter und gestenreich vor sich hin, Bassist Sami Helle gerne auch in bestem Englisch. Der 42-Jährige hat ADHS und auf jede Frage die passende Antwort parat. Vor dem ESC ist die Gruppe weltweit bereits herumgekommen. "England, Amerika, Kanada, Norwegen, Deutschland", zählt Sami auf. In der Heimat Finnland sind PKN, wie ihr Bandname abgekürzt wird, längst sehr bekannt. Der preisgekrönte Dokumentarfilm "The Punk Syndrome" machte die Gruppe vor drei Jahren quasi über Nacht zu Stars und ihr Schicksal öffentlich. Schlagzeuger Toni Välitalo (32) kam mit dem Down-Syndrom zur Welt, Gitarrist und Namensgeber Pertti Kurikka (59) ist leicht geistig behindert, Sänger Kari Aalto (38) hat das Williams-Beuren-Syndrom, eine das Denkvermögen reduzierende genetische Veränderung.

Fragen zu ihren Behinderungen beantwortet PKN eher gequält. "Wir wollen keine Mitleidspunkte", sagt Sami: "Wir sind eine Band wie jede andere auch." Trotzdem ging ein Aufschrei durch den Rest Europas, als die Finnen vor zweieinhalb Monaten mit 37 Prozent aller Stimmen zu den Vertretern ihres Landes gewählt wurden. Punkgeschrammel in Landessprache und dann noch Musiker, die weder Jugendwahn noch Schönheitsideal entsprechen — für viele eine gewagte Kombination. Nicht wenige werfen den Finnen vor, mit behinderten Sängern Punkte und eine gute Platzierung erhaschen zu wollen, anstatt einen guten Song an den Start zu bringen.

Ihr Wettbewerbsbeitrag "Aina Mun Pitää" (deutsch: Immer muss ich") kommt trotz vieler Wiederholungen nämlich nicht wie ein Ohrwurm daher. Immer müsse man unangenehme Dinge tun wie aufräumen oder zum Arzt gehen, anstatt zu machen, was einem gefällt — wie Fernsehen oder Alkohol trinken. Für diese Botschaft brauchen die Finnen statt der obligatorischen drei Minuten nur 86 Sekunden — Rekord! "Punkrock ist kurz", erklärt Sami ebenso prägnant und sieht die Frage nach der Lieddauer damit beantwortet. Von einem Toilettenbesuch ist dem TV-Zuschauer vor Startnummer fünf also abzuraten.

Sozialkritisch geht es bei PKN aber nicht immer zu. "Wir singen darüber, wonach uns gerade ist", sagt Sänger Kari und wippt dabei auf und ab. So geht es in ihren Songs auch über Kaffee und Cola oder über furzende Tiere. "Als wir Zoo waren, fiel mir auf, dass Tiere auch…" Der Rest geht im Gelächter Samis unter. ESC-typische Themen wie Liebe oder Frieden sucht man auch bei diesen Punkern vergeblich. Eins war irgendwie vorher klar: "Lordi", antwortet Sami auf die Frage seines liebsten ESC-Acts.

Natürlich Lordi. Die finnischen Monsterrocker hatten 2006 für ähnliche Irritation gesorgt und die Trophäe am Ende mit weichgespültem Hardrock ("Hard Rock Hallelujah") nach Hause geholt. Das will auch PKN schaffen. Um ins große Finale am Samstag einzuziehen, müssen am Dienstagabend im ersten Semifinale mit vielen Teilnehmern aus dem Osten vor allem Regionen überzeugt werden, in denen Inklusion noch nicht so weit fortgeschritten ist wie in Mitteleuropa.

Aber warum sollte nicht auch das gelingen?

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