Düsseldorfer Geschichten Alter Meister

Düsseldorf · Er ist 85 Jahre alt und weit davon entfernt, ein typischer Rentner zu sein. Nicht bloß, weil er als Dolmetscher, Physiker und Ingenieur ziemlich eingespannt ist. Edgar Geller trainiert für einen weiteren schwarzen Dan in Taekwondo und bringt Senioren den Kampfsport zur Selbstverteidigung bei. 1925 kam er in Rumänien zur Welt. Urpreußische Disziplin hat sein Leben geprägt.

  Edgar Geller ist 85 Jahre alt.

Edgar Geller ist 85 Jahre alt.

Foto: Bretz, Andreas

Die Goldenen Zwanziger in Berlin. Hier beginnt die Geschichte von Edgar Geller, der noch gar nicht geboren war. Seine Eltern lebten mitten in der Stadt, eine prachtvolle Wohnung an der Mommsenstraße, gleich um die Ecke vom Kurfürstendamm und einen Steinwurf vom Olivaer Platz, damals Treffpunkt der Schickeria. In Kladow, nah am Wannsee, diente eine kleine Villa als Familienresidenz. Dort hineingeboren, hätte Edgar ein ganz anderer werden können. Einer, der mit dem Volkssturm in den Krieg gezwungen worden wäre, einer der vielen, die gefallen sind, einer, der als 23-Jähriger durch die Luftbrücke der Alliierten überlebte.

Es kam anders. Schuld waren die Naturwissenschaften. Edgars Vater war da eine Koryphäe und verließ 1923 seine Heimat, in der noch nicht wirklich das goldene Jahrzehnt erkennbar war. Im noch jungen Staat Rumänien aber ging es dem Ingenieur besser als gut. Dort, am Fuß der Karpaten, wurde er für die Erdölindustrie gebraucht. Franzosen, Italiener, Engländer und Amerikaner arbeiteten damals mit Deutschen gemeinsam in den Raffinerien bei Câmpina, und sie lebten alle zusammen in einer Siedlung, in der es an nichts fehlte.

Vier Jahre lang führten die Gellers, was man heutzutage eine Fernbeziehung nennt. Sie im pulsierenden Berlin, er auf der internationalen Insel in Câmpino. Die Zugreisen waren beschwerlich, dauerten lange, und selten war auf die Verbindungen Verlass. Nur zu Feier- und Geburtstagen kam das Paar zusammen.

Bis zum Dezember 1925. Hochschwanger war Edgars Mutter für die Weihnachtszeit nach Rumänien gereist, als plötzlich die Wehen einsetzten. Er sei noch nie ein Freund großer Geduld gewesen, sagt er heute. Und kam entsprechend einen ganzen Monat früher als gedacht zur Welt, in Câmpina, wo das Baby Edgar "als Bürger Nummer Zehntausendsoundsoviel" registriert wurde. Was bedeutungslos war, weil Edgars Kindheit und Erziehung in Berlin längst geplant waren. Bloß das Wetter spielte nicht mit. Meterhoch lag der Schnee in jenem Winter in den Karpaten, und an die Rückreise mit Baby war nicht zu denken. Dann kam die Oma aus Berlin, sah den Pool und die 13-Zimmer-Villa, in der die Gellers im internationalen Viertel von Câmpino lebten — und riet generell von der Rückreise ab. Warum auch? Sie hatten doch alles. Und so wurde aus dem Fast-Berliner der zehntausendsoundsovielte Rumäne aus Câmpino, der erste Edgar Geller.

Es wird noch ein paar Jahre dauern, bevor aus dieser preußisch-rumänischen Historie eine Düsseldorfer Geschichte wird. Ein paar Jahrzehnte, um genau zu sein, denn die Geschichte griff massiv in die Gellerschen Lebensläufe ein.

Erst einmal ist da die internationale Siedlung, in der Klein-Edgar aufwächst. Zuhause wird Deutsch gesprochen. Die Mutter will erst gar nicht Rumänisch lernen. Erstens, weil sie nach Berlin zurück will. Und zweitens, weil es in ihrem internationalen Dörfchen gar nicht nötig ist. Und auch im Königreich Rumänien gilt es noch als schick, Französisch zu reden. Beim Spielen in der Nachbarschaft lernt Edgar außer Rumänisch und Französisch noch Englisch und Italienisch dazu. Als erstes natürlich die Flüche. "Sie glauben ja nicht, wie schön ich schimpfen kann", sagt er heute. Dass er noch mehr gelernt hat, ist ihm nach seiner Ankunft in Deutschland zu Gute gekommen. Heute ist Edgar Geller staatlich anerkannter Übersetzer für fünf Sprachen — Moldawisch spricht er nämlich auch.

Im Königreich Rumänien gehen die Kinder in den 1930ern in Uniform zur Schule. Auch Edgar Geller trägt khakifarbene Jacke und Hose und auf dem Ärmel eine Nummer. "Wenn wir Mist bauten, konnte uns dadurch jeder als Schüler einer bestimmten Schule identifizieren. Das gab dann schon mal Ärger." Und dem Ruf der Schule durch das eigene Verhalten zu schaden, war sehr verpönt.

Er sagt heute als 85-Jähriger nicht, dass das noch immer wünschenswert wäre. Erwähnt nur beiläufig, dass deutsche Ergebnisse bei der internationalen Pisa-Studie womöglich besser wären, wenn Kinder und Jugendliche mehr für Werte übrig hätten, wie sie damals hochgehalten wurden. Werbung etwa hält er für fatal. Wenn eine Bank mit dem Slogan wirbt "Unterm Strich zähl ich" oder ein Basketball-Fan seinen Superstar nicht höflich um ein Autogramm bittet, sondern "Her damit" sagt — wo bleibt denn da die Disziplin, fragt Geller. "Ich rede nicht von Terror oder Zwang. Aber Disziplin ist wichtig, wenn man es zu irgendetwas bringen will."

Ihn hat sie erst einmal an die Universität gebracht. Natürlich war auch eine ganze Menge Glück dabei. Die Familie hatte ihr Zusammensein in der Exklave bei Câmpina so sehr genossen, dass an Rückkehr keiner dachte. Und dann hatte Rumänien bei Beginn der Nazi-Herrschaft in Deutschland erst mit Stalin geliebäugelt, und später den Einmarsch der Deutschen fast klaglos hingenommen. Den Deutschen in Rumänien ging es gut. Auch den Gellers. Und Edgar, der gerade sein Studium begonnen hatte, wurde nicht zum Wehrdienst eingezogen.

Er spricht nicht gern über diese Zeit. Drei Diktaturen hat er überlebt, doch die der Nazis sei die "unvorstellbar brutalste" gewesen, sagt er. Dabei hat er selbst nicht darunter leiden müssen. Sein Vater war in der Erdölindustrie kriegswichtig und auch er selbst blieb als Student unbehelligt, musste weder zur Wehrmacht noch zum Reichsarbeitsdienst.

Mit Rumäniens Bekenntnis zu Russland änderte sich nicht viel. Vater Geller war den Kommunisten zu wichtig, um sich für seine Staatsangehörigkeit zu interessieren. "Obwohl er Deutscher war und nie ein Parteibuch hatte, durfte er als Professor in Bukarest unterrichten", sagt der Sohn mit dem unverhohlenen Stolz des Naturwissenschaftlers.

Naturgesetze unterliegen keiner Politik. Und so hat sich auch Edgar Geller wie sein Vater arrangiert. Die Wohnung an der Mommsenstraße war im Krieg zerstört worden, auch von der Villa in Kladow war nichts mehr übrig. Warum hätten sie nach Berlin zurück gehen sollen? Natürlich hatten sie auch die 13-Zimmer-Villa in Câmpino nach dem Krieg räumen müssen — die Partei beanspruchte die schönsten Häuser für sich. Aber statt der üblichen 25 hatte der neue sozialistische Staat den Gellers immerhin 40 Quadratmeter zugestanden. Das Zusammenpferchen möglichst vieler Menschen auf möglichst engem Raum hatte seinen Grund. "Das war eine einzige Spitzelei. Und jedes Haus hatte einen Bevollmächtigten, der alles an die Securitate meldete."

Geller blieb davon unbehelligt. Nach dem Physik- und Chemie-Studium hatte er noch einen Abschluss in Metallurgie gemacht, zahllose wissenschaftliche Arbeiten verfasst und trat in die Fußstapfen des Vaters. Als erster in Rumänien entwickelte er ein Verfahren zur Galvanisierung von Kunststoff, bekam einen Preis für seine Arbeit über kriechende Metalle, ließ sieben Erfindungen patentieren und erarbeitete sich einen gewissen Prominenten-Status.

"Es ging uns damals in Rumänien allen schlecht, nur mir ging es ein bisschen weniger schlecht als anderen", sagt Geller und versucht erst gar nicht, wie viele andere, die aus sozialistischen Staaten in die Bundesrepublik flüchteten, seine Vergangenheit zu negieren. "Das sozialistische Regime legt seinen Bürgern starre Korsetts an. Aber man kann lernen, mit Korsetts zu leben."

Edgar Geller lebte gut mit dem Korsett. Er spielte Tennis, schwamm und nahm an den rumänischen Ski-Meisterschaften teil. Wie der Vater unterrichtete er an der Uni in Bukarest, und er genoss Privilegien, die für Menschen ohne Parteibuch selten waren. Zum Beispiel konnte er einen VW Käfer kaufen und durfte reisen — immerhin bis Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) in der damaligen DDR.

Privat ließ er sich nicht so fest binden, heiratete dreimal, bevor er 1974 seine große Liebe fand. Mariana, seine 23 Jahre jüngere Gefährtin, ist der Grund, warum aus Edgar Gelllers eine Düsseldorfer Geschichte wurde. Denn es war die Rimänin Mariana, die vom Leben im Westen träumte. Im Urlaub bekamen diese Träume immer neue Nahrung. "Die Touristen aus dem Westen rochen so gut, oft dufteten die Bäder noch nach ihrer Fa-Seife", erinnert sie sich an die rumänischen Hotelzimmer.

In den 1970ern war Gellers Mutter in Rumänien gestorben, der Vater hatte ihr Grab nicht verlassen wollen. Niemand hatte bei Gellers daran gedacht, Rumänien zu verlassen. Bis Mariana kam. Im siebten Jahr ihrer Ehe flüchtete Edgar mit ihr über Ungarn und Österreich in die Bundesrepublik. Ein Freund vermittelte ihnen eine Wohnung in Hilden, so kamen sie ins Rheinland.

Doch dort hatte man keine Verwendung für einen Spezialisten wie Edgar Geller. Es herrschte der Kalte Krieg, viel zu groß war die Angst vor Spionen. Fünf Jahre hätte Geller auf eine Anstellung in einer Universität warten müssen. Da war er 56 Jahre alt — zu jung zum Nichtstun. Geller qualifizierte sich als Dolmetscher.

In ihrer Hildener Wohnung schufen sich die Gellers zunächst aber eine andere Lebensgrundlage. Sie malte, er machte Schmuck aus Bisonknochen und Metall. Viel haben sie davon verkauft. Heute schmückt die Kunst vor allem ihre eigenen vier Wände. Die Szenen aus dem Petroleum-Quartier von Câmpina, das bei einem Erdbeben in den 1970ern zerstört wurde, hat er aus dem Gedächtnis gemalt, die Blumen-Aquarelle sind von ihr. Wunderschöne Ikonen haben sie gemeinsam geschaffen, er die Metallteile, sie die Malerei.

Dass Mariana in der Stadt seiner Kindheit aufgewachsen ist, empfindet Edgar Geller als großes Geschenk. Gemeinsame Erinnerungen, sagt er, schaffen eine innige Verbindung. Den Altersunterschied erwähnt er nicht. Warum auch? In der Regel schätzt man ihn um gute 20 Jahre jünger als er ist — und dann wäre Mariana bloß drei Jahre jünger als er selbst.

Neulich hat er bei Sandra Maischberger im Fernsehen mit Joachim Fuchsberger und Harry Valérien übers Altwerden diskutiert. Zu so etwas wird er gerne eingeladen, weil er mit seinen 85 Jahren und den beiden Meistergraden im Taekwondo vermittelt, dass das Alter ein großer Spaß ist, auf den sich jeder freuen kann.

Dabei ist auch das wieder ein Fall für die Gellersche Disziplin. Er geht früh schlafen, isst wenig Fleisch und viel Gemüse und für die fünf Stockwerke in seine Wohnung nimmt er so gut wie nie den Lift.

Nach dem Start in Hilden sind die Gellers bald nach Düsseldorf gezogen. Sie lieben die Stadt, die heute ihre Heimat ist. Auch, als das Ceaucescu-Regime 1989 stürzte, kam keiner von ihnen auf die Idee, zurück zu gehen. Nur manchmal überkommt beide eine Sehnsucht nach dem Câmpina ihrer Jugend. Heimweh, sagt Geller, hat er nie gehabt. "Wohl, weil ich mich nie als Rumäne gefühlt habe."

Und ohnehin hätte er für solche Sehnsüchte kaum Zeit. Die Gellers reisen gern. Am liebsten mit dem Auto. Inzwischen genießt es auch seine Frau, wenn Edgar Geller den Audi TT auf 180 Kilometer in der Stunde beschleunigt. Und dann ist da ja noch die Arbeit. Als Dolmetscher und technischer Berater ist er sehr gefragt. Ruhestand? Wenn er mal 110 sei vielleicht, sagt er und lacht: "Was soll ich denn sonst tun? Den Hund ausführen?" Natürlich nicht. Er hat ja keinen.

Dafür ein Hobby, das er erst kurz vor seinem 70. Geburtstag entdeckte: Taekwondo. Als er damit anfing, wollte ihn der Trainer zu Meisterschaften schicken. Geller hat ihn ausgelacht — und ist dann doch gefahren. Inzwischen hat er eine beträchtliche Pokalsammlung und mehrere schwarze Gurte, die so genannten Dans. Der Weltmeister hat acht davon. Das ist für Edgar Geller immer noch ein Ziel.

Die Kampfkunst macht ihm Spaß. Neben der Disziplin für ihn das wichtigste. "Wahrscheinlich habe ich in meinem Leben so viel leisten können, weil ich immer Dinge tat, die mir Freude machten." Die Freude gibt er weiter, in dem er Senioren in Selbstverteidigung trainiert. Die Kurse sind stets ausgebucht. Eigentlich, sagt Geller, ist es eine Schande. "Ein echtes Drama, dass alte Menschen heutzutage solche Kurse machen, um sich auf der Straße sicher zu fühlen." Überhaupt: Er hat drei Regimes stürzen gesehen, hat so viele Umwälzungen in der Welt erlebt — "aber die Veränderungen der vergangenen 30 Jahre waren wohl die tiefgreifendsten." Und das nicht nur zum Positiven.

Die Hemmschwelle zur Gewalt sei heutzutage so niedrig wie nie. Mit seinen Kursen wird er das nicht ändern. Aber die Senioren stärken. "Das ist, neben der richtigen Technik, unser größtes Plus: Wer rechnet denn damit, dass ein alter Mann zurückschlägt?" Und gut fürs Selbstbewusstsein ist es auch, wenn Rentner schon nach wenigen Stunden Training Holzplatten mit der bloßen Hand zerschlagen können.

Demnächst beginnt ein neues Seminar in Düsseldorf. Natürlich ohne Altersbegrenzung. Bloß eine Bedingung stellt Geller seinen Schülern: schwarze Hosen, weißes Shirt. "Bei mir kommt nicht einfach jeder, wie er will." Er ist ein strenger Trainer. "Aber die Leute wollen das auch so."

(RP)
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