Istanbul Erdogans nächste Eskalationsstufe

Istanbul · Die türkische Präsident beschuldigt sechs Menschenrechtsaktivisten der Terrorunterstützung. Ihnen könnten jahrzehntelange Haftstrafen drohen.

In aller Frühe kam die Entscheidung: Ein Gericht in Istanbul ordnete gestern Morgen Untersuchungshaft gegen sechs Menschenrechtler an. Unter ihnen sind auch zwei Ausländer, der Schwede Ali Gharavi und der 45-jährige Deutsche Peter Steudtner. Die Festnahmen bedeuten eine neue Eskalationsstufe der "Säuberungen", mit denen Staatschef Recep Tayyip Erdogan gegen seine Kritiker vorgeht - und einen neuen Tiefpunkt in den deutsch-türkischen Beziehungen.

Büyükada, die größte der Prinzeninseln im Marmarameer vor Istanbul, ist nicht nur ein beliebtes Ausflugsziel für die Bewohner der türkischen Wirtschaftsmetropole. Auch Konferenzveranstalter kommen gern auf die autofreie Insel. Wie Amnesty International. Die Menschenrechtsorganisation veranstaltete dort Anfang Juli ein Treffen. Es sei ein Routine-Menschenrechtsworkshop gewesen, "wie es sie auf der ganzen Welt gibt", sagt Andrew Gardner von Amnesty. Das Thema: "Digitale Sicherheit und Informationsmanagement" - eigentlich eine unverfängliche Tagesordnung. Doch am zweiten Tag des Seminars, dem 5. Juli, stürmten Polizeibeamte das Tagungshotel, beschlagnahmten Unterlagen, Mobiltelefone und Computer. Zehn Teilnehmer wurden festgenommen, unter ihnen auch die Türkei-Direktorin von Amnesty, Idil Eser. Nach 13 Tagen in Polizeigewahrsam ließ ein Gericht gestern dann vier der Festgenommenen unter Auflagen frei. Für sechs wurde Untersuchungshaft angeordnet, darunter Eser, Gharavi und Steudtner.

Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty spricht von einer "politisch motivierten Hexenjagd". Shetty: "Wir haben heute gelernt, dass die Verteidigung der Menschenrechte in der Türkei ein Verbrechen ist." Das sei "ein Moment der Wahrheit, für die Türkei und die Internationale Gemeinschaft". Seit dem Putschversuch vor einem Jahr hat Staatschef Erdogan per Dekret rund 138.000 Staatsdiener entlassen. 149 kritische Medien wurden geschlossen, 1500 Nichtregierungsorganisationen verboten. 56.000 Menschen sitzen in Untersuchungshaft. Die kann in der Türkei bis zu fünf Jahre dauern. Bereits nach der Festnahme der zehn Menschenrechtler vor knapp zwei Wochen hatte die Sprecherin des Uno-Hochkommissariats für Menschenrechte, Liz Throssel, große Besorgnis geäußert: "Wir befürchten, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit gefoltert oder auf eine andere Art grausam und entwürdigend behandelt werden", sagte Throssel gestern in Genf.

Dass diese Sorge nicht unberechtigt ist, zeigen Äußerungen Erdogans vom vergangenen Wochenende. Er will Untersuchungshäftlinge künftig in einheitliche Uniformen stecken, "wie in Guantanamo", dem berüchtigten US-Gefangenenlager auf Kuba. Misslich für die inhaftierten Menschenrechtler: Erdogan selbst hatte sie aufs Korn genommen. Das Seminar auf Büyükada sei "eine Fortsetzung des 15. Juli" gewesen, erklärte der Staatschef - eine Anspielung auf den Putschversuch vor einem Jahr. Wie unbefangen die Richter nach einer solchen Äußerung des Präsidenten über Freilassung oder Untersuchungshaft der Menschenrechtler entscheiden konnten, sei dahingestellt.

Noch ist nicht klar, welche Terrorgruppe die Beschuldigten unterstützt haben sollen. Regierungsnahe türkische Medien spekulieren, die Menschenrechtler seien Teil einer anti-türkischen Verschwörung unter Führung der amerikanischen CIA und des britischen Geheimdienstes. Es heißt, die Ermittler hätten Hinweise auf Verbindungen zur kurdischen PKK, zu linksextremistischen Gruppen, aber auch zur Bewegung des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen. Die Regierung beschuldigt den in den USA lebenden Prediger als Drahtzieher des Putschversuchs. Gülen weist die Vorwürfe zurück. Seit Monaten bemüht sich die Türkei in Washington um eine Auslieferung Gülens, für den die Staatsanwaltschaft 3623 Mal lebenslange Haft fordert. Der türkische Vize-Premier Numan Kurtulmus forderte am Montag von den US-Behörden, sie müssten Gülen "unverzüglich festnehmen". Es sei inakzeptabel, dass "der Anführer einer blutrünstigen Mörderbande" die Türkei aus den USA bedrohe, sagte Kurtulmus. Dass Erdogan die verhafteten Menschenrechtler beschuldigt, bei ihrem Seminar in Büyükada Putschpläne geschmiedet zu haben, lässt Schlimmes befürchten. Bei einem Schuldspruch könnten ihnen jahrzehntelange Haftstrafen drohen. Erdogan hatte am vergangenen Wochenende anlässlich der Gedenkfeiern zum ersten Jahrestag des niedergeschlagenen Coups angekündigt, die Putschisten würden "hinter den Gefängnismauern verfaulen". In einer anderen Rede drohte Erdogan sogar, man werde den Verschwörern "die Köpfe abreißen". Steudters Lebensgefährtin Magdalena Freudenschuss bezeichnete die Terrorvorwürfe als "total absurd". Sie seien "das Gegenteil dessen, wofür Peter und Ali und die anderen Menschenrechtsverteidiger mit ihrer Arbeit stehen", erklärte Freudenschuss. Die Inhalte des Seminars seien "in keiner Weise politisch" gewesen. Steudter und sein schwedischer Kollege hätten mit den Teilnehmern Übungen zum Umgang mit Stress und Trauma gemacht.

Die Bundesregierung reagierte besorgt. "Wir sind der festen Überzeugung, dass diese Verhaftung absolut ungerechtfertigt ist", erklärte Kanzlerin Angela Merkel. "Wir erklären uns mit ihm und den anderen Verhafteten solidarisch und werden auf allen Ebenen alles tun, um seine Freilassung zu erwirken." Der menschenrechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Michael Brand (CDU), nannte den Vorwurf der Terrorunterstützung absurd. "Die Strafverfolgung ist eindeutig politisch motiviert", sagte er. Linken-Politikerin Sevim Dagdelen forderte das Auswärtige Amt auf, eine Reisewarnung für die Türkei auszusprechen. Die Bundesregierung müsse sich für den Stopp der EU-Beitrittsgespräche einsetzen.

(RP)
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