Analyse Schaut Deutschland bei Rassismus weg?

Strassburg · Der Europarat übt Kritik am deutschen Umgang mit Angriffen auf Minderheiten. Besonders die Pannen bei der Aufklärung der NSU-Morde werden als Beleg dafür gewertet, dass Rassenhass hierzulande unterschätzt wird.

Hetze bei der NPD, Provokation durch Thilo Sarrazin, Pannen bei der Aufklärung der NSU-Morde — der Europarat stellt Deutschland beim Umgang mit Rassismus und Diskriminierung noch immer kein gutes Zeugnis aus. Zwar habe es in den vergangenen Jahren Fortschritte gegeben, heißt es im jüngsten Deutschland-Bericht, den das Anti-Rassismus-Komitee des Europarats (Ecri) jetzt in Straßburg vorstellte. In mehreren Bereichen bestehe allerdings noch immer Anlass zur Sorge.

"Seit der Wiedervereinigung ist die Zahl der Morde und die durch Rassismus und Homophobie motivierte Gewalt in Deutschland hoch", schreiben die unabhängigen Menschenrechtsexperten in ihrem Bericht. Allerdings gebe es in Deutschland noch immer kein System, in dem Übergriffe dieser Art sowie Hassreden zufriedenstellend erfasst würden.

Diese Schwachstellen seien vor allem bei den Ermittlungspannen im Zuge des NSU-Skandals zutage getreten. "Ganz Europa war schockiert, als es die Existenz des 'Nationalsozialistischen Untergrundes' im November 2011 entdeckte, sowie die Reihe rassistischer Morde, die dessen Mitglieder verübt hatten", heißt es in dem Dokument. Die Ermittlungsbehörden hätten das Ausmaß rechter Gewalt erheblich unterschätzt und die Möglichkeit eines rassistischen Beweggrunds nicht ausreichend in Betracht gezogen.

Deutschland soll, so lautet die Empfehlung, ein System zur Erfassung und Verfolgung rassistischer, fremdenfeindlicher und homophober Übergriffe einrichten, damit "all diesen Fällen" nachgegangen werden könne. Denn bisher, so lautet die Kritik aus Straßburg, würden "rassistische Motive" noch immer "viel zu rasch ausgeschlossen" und der Begriff des Rassismus oft zu eng ausgelegt. Einwanderer und andere Gruppen wie Homosexuelle zögerten daher, Übergriffe bei den Behörden zu melden. Selbst in öffentlichen Debatten tauchten immer wieder durch "Rassismus und vor allem Fremdenfeindlichkeit angefeuerte Hassreden" auf, ohne dass diese eindeutig verurteilt würden. Die größte Quelle für Hassreden ist der Europaratskommission zufolge die extreme Rechte, allen voran die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD).

Sorge bereitet den Experten aber auch die Art und Weise, wie Deutschland über Einwanderung debattiere. Aussagen, die Fremdenhass förderten, würden nicht klar genug verurteilt. In der Kritik steht dabei auch der frühere Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin. Die Kommission "bedauert" in ihrem Bericht die antimuslimischen Äußerungen des SPD-Politikers in seinem umstrittenen Buch "Deutschland schafft sich ab" und äußert sich "tief besorgt" darüber, dass eine Reihe von Medien Passagen aus dem Buch veröffentlicht hatten. Dadurch hätten Sarrazins Thesen in der Öffentlichkeit große Unterstützung erhalten, "obwohl die vorgebrachten Argumente der Eugenik-Theorie der Nationalsozialisten sehr nahe kamen".

Die Europarats-Experten empfehlen Deutschland unter anderem, das Strafrecht zu reformieren und rassistische Motive künftig als erschwerenden Umstand zu definieren. Ausdrücklich bedauern die Experten, dass zwei entsprechende Versuche des Bundesrates 2008 und 2012 gescheitert seien. Bei Gerichtsurteilen werde nur sehr selten Rassismus als Grund für eine Straftat erwähnt. Das Bundesjustizministerium rechtfertigte sich zu diesem Punkt und betonte, es bestehe "große Bereitschaft", die Empfehlungen zu prüfen und zu berücksichtigen.

Als positiv würdigt die Kommission, dass mehrere deutsche Bundesländer inzwischen eigene Stellen zur Bekämpfung von Diskriminierung aufgebaut hätten. Auch die gesetzliche Situation von Homo- und Transsexuellen habe sich in Deutschland inzwischen erheblich gebessert.

Die Reaktionen in Deutschland fielen gemischt aus. Der Bericht sei "nicht nur ein Armutszeugnis für Deutschland, sondern auch ein deutliches Warnsignal", sagte der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Burkhard Lischka. Für die Linke im Bundestag begrüßten Ulla Jelpke und Sevim Dagdelen den Bericht. "Wir haben es nicht nur mit Ignoranz zu tun. Polizeibehörden und Regierungspolitiker leisten dem Rassismus in Deutschland vielfach aktiv Vorschub." Dagegen warnte Bilkay Öney, die SPD-Integrationsministerin in Baden-Württemberg, angesichts zahlreicher Initiativen gegen Rassismus sei die Kritik des Europarats "möglicherweise zu pauschal".

In jedem Fall relativiert sich die Kritik an Deutschland, wenn man sich die Aussagen zu anderen Ländern in Europa anschaut. Die Kommission prüft im regelmäßigen Abstand die Lage in den 47 Mitgliedsstaaten des Europarats. Doch auch außerhalb der Staatenberichte melden sich die Experten des Rats zu Wort. Erst im Januar äußerte etwa der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muizniek, Sorge über wachsenden Antisemitismus in ganz Europa. 70 Jahre nach dem Holocaust trete Antisemitismus auch in neuen Formen auf, sagte er. Als Beispiel nannte er den umstrittenen französischen Satiriker Dieudonné.

Der Sohn einer Bretonin und eines Schwarzafrikaners spaltet mit seinem "Quenelle"-Gruß seit Wochen Franreich — eine Geste, die Dieudonné selbst als "Stinkefinger gegen das System" versteht, die aber von Kritikern und der französischen Regierung klar als antisemitisches Symbol und "versteckter Hitlergruß" gewertet wird. Zu den Unterstützern Dieudonnés zählt eine merkwürdige Allianz aus weißen Rechtsextremen sowie schwarzen und muslimischen Jugendlichen — gesellschaftlichen Verlierern, die eigentlich nichts eint, außer ihrem Hass gegen Juden und "das System". Der Philosoph Alain Finkielkraut sieht darin eine neue Form des "multikulturellen Antisemitismus".

(RP)
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