Wahlkampfendspurt Die Furcht vor der Überhangsregierung

Düsseldorf (RPO). Kurz vor der Bundestagswahl wurde auch das Überhangmandat zum Thema im Wahlkampf: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik könnte eine Koalitionsmehrheit nur aufgrund der wahlrechtsbedingten Zusatzsitze zustandekommen. Schon mit 46 Prozent der Zweitstimmen dürfte Schwarz-Gelb auf eine parlamentarische Mehrheit hoffen. Experten nennen dies illegitim, die Linke drohten bereits mit einer Klage.

"Too close to call" - so würde man die aktuelle Situation bei uns wohl in den USA beschreiben. Nichts ist klar, einen Wahlsieger zu prophezeien sogar unmöglich. Denn ob ein Bündnis aus CDU/CSU und FDP bei der Bundestagswahl am 27. September eine Mehrheit im Parlament besitzen wird, steht in den Sternen. Weitere Fragen drängen sich auf. Reicht es für eine Ampel oder die berühmte Jamaika-Kombo? Oder bleibt am Ende vielleicht doch nur wieder die Große Koalition?

In den den Parteizentralen wird gezittert. Die neuesten Umfragen sehen eine Koalition aus Schwarz-Gelb zwischen 46 und 48 Prozent, meist nur hauchdrünn vor der Kombination aus SPD, Grünen und Linke.

Bis zu 20 Zusatzsitze für Union

Aber für die Union gibt es noch einen "Joker": Die Überhangmandate. Bis zu 20 dieser Zusatzssitze - so kalkulieren Demoskopen - könnten am Wahlabend für das Lager von Angela Merkel entstehen. Für die SPD wären es demnach bestenfalls fünf oder sechs.

Die Differenz, diese Möglichkeit besteht absolut, würde momentan über Sieger und Verlierer entscheiden. Dies zumindest geht aus den neuesten Erhebungen hervor - mit Ausnahme einer Umfrage des "Handelsblatts", laut der Union und Liberale selbst mit Überhangmandaten keine parlamentarischen Mehrheit besäßen.

Die Ursache für Überhangmandate ist das Wahlrecht mit Erst- und Zweitstimme. Mit der Erststimme wird in jedem Wahlkreis ein Direktkandidat gewählt und mit der Zweitstimme die Landesliste einer Partei. Erringt eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate als ihr nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen, erhält die Partei diese Sitze zusätzlich im Bundestag.

Nach der Verfassung ist das Gewicht aller Wählerstimmen gleich. In der Praxis sind manche Stimmen jedoch gleicher. Glaubt man Wahlforschern, könnten CDU und FDP bereits mit einem Zweitstimmenanteil von nur 46 Prozent am kommenden Wahlsonntag die künftige Bundesregierung stellen.

"Kein Mandat zweiter Klasse"

Kanzlerin Merkel erklärte bereits, auch mit einer Mehrheit aus Überhangmandaten ein schwarz-gelbes Bündnis anstreben zu wollen. Schließlich handele es sich bei Überhangmandaten "nicht um ein Mandat zweiter Klasse". CDU und FDP werteten die gesamte Diskussion um die Zusatzsitze unisono als überzogen und "deplatziert".

Aber genau diese Diskussion ist entbrannt - ob es dem bürgerlichen Lager gefällt oder nicht. "Merkels stabile Mehrheit würde auf einem verfassungswidrigen Wahlrecht beruhen", befand der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, der "Frankfurter Rundschau". Und auch SPD-Chef Franz Müntefering monierte, sobald die Frist des Verfassungsgerichts auslaufe, sei eine Bundesregierung, die auf Überhangmandaten basiere, "delegitimiert".

Die SPD sieht im Fall einer deutlichen Ungleichheit bei Überhangmandaten den Verfassungsgrundsatz gefährdet, wonach alle Stimmen gleich zählen. Die Sozialdemokraten hätten in ihrer Geschichte immer für den Grundsatz gekämpft, "dass man direkt, gleich und frei wählen kann", sagte Müntefering in Berlin. "Das 'gleich' ist ein wenig aus der Spur geraten" fügte er hinzu.

Grüne schimpfen über "geklaute Mehrheit"

Auf dem Kleinen Parteitag der Grünen in Berlin hatte bereits deren Spitzenkandidat Jürgen Trittin die CDU-Chefin scharf attackiert: "Sie will nicht nur im Schlafwagen an die Macht, sondern ist auch bereit, mit einer ergaunerten Mehrheit weiter zu regieren." Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Fraktion, Volker Beck, hatte bereits am Samstag gesagt: "Es wäre tatsächlich unanständig, wenn Schwarz-Gelb darauf spekuliert, mit einer geklauten Mehrheit zu regieren." Der SPD müsse man aber vorwerfen, dass sie dem Gesetzentwurf der Grünen zur Beseitigung der Überhangmandate nicht zugestimmt habe. "Das haben die Sozialdemokraten vergeigt", betonte Beck.

Die Linke geht sogar noch einen Schritt weiter. Sie will eine mögliche Stimmenmehrheit von Union und FDP durch Überhangmandate nach der Bundestagswahl nicht hinnehmen. Linke-Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch stellte in Berlin rechtliche Schritte in Aussicht, falls es zu solch einer Mehrheit kommen sollte. Experten halten dies jedoch für wenig aussichtsreich.

Selbst Experten sind sich uneins

Selbst die wissenschaftlichen Experten sind sich uneins. Der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, hat das Verhalten der Parteien im Streit um die sogenannten Überhangmandate bei der Bundestagswahl scharf kritisiert. "Weder die Gleichheit der Stimmen ist gewährleistet noch die Gleichheit der Parteien, denn von den Überhangmandaten profitieren die großen Parteien am meisten", sagte er dem "Hamburger Abendblatt".

Artikel 38 der Verfassung fordert, dass Bundestagsabgeordnete in "allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt" werden. Wird einer dieser fünf Grundsätze, etwa die Gleichheit des Stimmgewichts, so sehr verletzt, dass dadurch das Wahlergebnis insgesamt verfälscht wird, wird eine Wahl ungültig, schreibt Michael Honikel, Staatsrechtslehrer an der Verwaltungsschule Rhein-Neckar, auf seiner Homepage. Gut möglich, dass Karlsruhe nach der Wahl am Sonntag angerufen wird, auch darüber zu entscheiden.

Der Mannheimer Staatsrechtler Wolf-Rüdiger Schenke sieht dagegen keine juristischen Probleme. Seiner Ansicht nach könnte Schwarz-Gelb auch dann regieren, wenn sie ihren Vorsprung an Parlamentssitzen ausschließlich Überhangmandaten verdanke. Auch die anstehende Korrektur des Wahlrechts würde eine solche Mehrheit nicht nachträglich rechtswidrig machen.

Dauerthema für das Verfassungsgericht

Mit Überhangmandaten musste sich das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach befassen: Eine Klage des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder (SPD) gegen die verzerrende Wirkung dieser Mandate scheiterte 1997 denkbar knapp an einem Patt von vier zu vier Richterstimmen. Ein Jahr später betonte das Gericht die Ausnahmerolle eines Überhangmandats. Es entschied, dass der Sitz eines ausgeschiedenen direkt gewählten Abgeordneten nicht neu besetzt werden darf, wenn die Partei in dem betreffenden Bundesland über Überhangmandate verfügt.

Im Juli 2008 erklärte Karlsruhe dann den aus Überhangmandaten resultierenden Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts für verfassungswidrig. Demnach kann es unter bestimmten Bedingungen vorkommen, dass sich der Listensitz einer Partei aus einem Bundesland mit Überhangmandaten für diese Partei in ein Land verschiebt, in dem die Partei kein Überhangmandat hat. Während in dem ersten Land wegen der Überhangmandate de facto kein Sitz wegfällt, kommt die betreffende Partei in dem anderen Land auf ein weiteres Mandat. Die Partei erhält also bundesweit einen zusätzlichen Sitz.

Die Verfassungshüter bezeichneten dies als "absurd" und forderten den Gesetzgeber auf, das Wahlrecht bis 2011 zu ändern. Die Überhangmandate selbst erklärte Karlsruhe nicht für verfassungswidrig. Ihre verzerrende Wirkung könnte der Gesetzgeber deshalb durch zusätzliche Ausgleichsmandate für andere Parteien mildern, wie das bei einigen Landtagswahlen geschieht. Oder die Überhangmandate könnten künftig bundesweit anstatt nach Landeslisten verrechnet werden.

Im vergangenen Jahr hätte die SPD gemeinsam mit der Opposition eine Mehrheit im Bundestag für eine Wahlrechtsänderung gehabt. Doch aus Rücksicht auf den Koalitionspartner CDU, der eine schnelle Regelung ablehnte, verzichtete sie. Allerdings hatte selbst der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach nach dem Karlsruher Urteil gesagt hatte: "Es ist wirklich problematisch, bei der Bundestagswahl 2009 mit einem Wahlrecht anzutreten, von dem man weiß, dass es verfassungswidrig ist."

(AFP/AP/ddp/asl)
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