SPD-Parteitag in Bonn Mit blauem Auge in die Groko-Verhandlungen

Die Zustimmung des SPD-Sonderparteitags zu Koalitionsverhandlungen ist mit 56 Prozent denkbar knapp ausgefallen. Lange Zeit stand der Erfolg von Martin Schulz auf der Kippe. Und das Zittern geht weiter.

 Martin Schulz auf dem Sonderparteitag in Bonn.

Martin Schulz auf dem Sonderparteitag in Bonn.

Foto: Federico Gambarini/dpa

Knapp zwei Stunden vor der Abstimmung stieg die Nervosität auf den Gängen des World Conference Center in Bonn ins Unermessliche. Gleichstand raunten sich SPD-Delegierte zu, prominente Genossen huschten in Nebenräume, verdrehten die Augen. Sollte es wirklich stimmen? Könnten die Gegner einer großen Koalition tatsächlich gewinnen und damit nicht nur in absehbarer Zukunft eine Neuwahl heraufbeschwören, sondern auch Parteichef Martin Schulz an den Rand des Rücktritts drängen? Es stand lange Zeit auf der Kippe, wer die Oberhand haben würde.

Und dann kam Andrea Nahles. Was Schulz mit seiner Rede nicht geschafft hatte, holte sie nach. "Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite", rief sie den Delegierten zu. Sichtlich emotional und aufgebracht donnerte die Fraktionschefin, die Bürger würden der SPD doch den Vogel zeigen, wenn sie sich trotz guter Sondierungsergebnisse für eine Neuwahl entscheide. Erstmals johlten an diesem Punkt die Befürworter von Koalitionsverhandlungen im Saal auf.

Anspannung in den Gesichtern zu lesen

Nahles, so hieß es später, habe mit ihrem Beitrag das Blatt gewendet. Sie habe es erreicht, dass einige unentschlossene Delegierte doch dem Aufruf der Parteispitze folgten und für Verhandlungen votierten. Bei der Abstimmung ergab sich jedoch kein eindeutiges Bild, das Ergebnis musste ausgezählt werden. Die Jusos und ihre Anhänger jubelten, als die Gegner ihre Stimmkarten hoben.

In die Gesichter von Schulz, Nahles und den anderen Mitgliedern der Parteiführung war die Anspannung geschrieben. Am Ende sollte es mit 56 Prozent knapp reichen. Euphorisch zeigte sich aber weder die eine noch die andere Seite. Immerhin war es eine beachtliche Leistung der Jusos.

Denn es war ein zähes Ringen. Die Debatte vor den knapp 650 Delegierten verlief den gesamten Tag über fair und sachlich. Ausfällig wurde niemand, es gab keine Störaktionen in der Halle. Martin Schulz, der wegen einer Grippe sichtlich angeschlagen war, lieferte eine ordentliche aber wenig bewegende Rede ab. Er erwähnte wichtige Punkte für die Erneuerung der Partei - denn darauf achten die Groko-Gegner mit Argusaugen. Konkrete Schritte konnte er aber nicht nennen und kündigte lediglich an, im März gemeinsam mit SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil einen Fahrplan für die Erneuerung der SPD vorzustellen. Das stieß auf Kritik bei vielen Delegierten. Sie hatten sich etwas Handfestes gewünscht.

Hinzu kam: Die Aufnahme eines Änderungsantrags aus NRW, Niedersachsen und Hessen half nur bedingt, da die Formulierung stark abgeschwächt wurde. Ursprünglich sah dieser vor, eine Härtefallregelung beim Familiennachzug von Flüchtlingen, die Honorarangleichung der privaten und gesetzlichen Krankenversicherung sowie ein Ende befristeter Arbeitsverträge zur Bedingung für einen Koalitionsvertrag zu machen.

Schulz, so war zu vernehmen, hörte bei Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel nach, inwiefern er dem nachgeben und bei der Union auf Zustimmung stoßen könne. Am Ende blieb jedoch nur ein Passus übrig, wonach auf diese Punkte in den Verhandlungen besonders zu achten sei.

Juso-Chef Kevin Kühnert, der zum Gesicht der "No-Groko"-Bewegung wurde, sprach von einem Vertrauensverlust. Dieser Konflikt zwischen Jusos und Parteispitze ist indes nicht neu. Schon 2015 zofften sich der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel und Kühnerts Vorgängerin Johanna Uekermann auf offener Bühne.

Die SPD hat über dieses Ergebnis hinaus mit einem Problem zu tun, das tiefer sitzt. Es geht nicht einfach nur um die Erneuerung der Partei, es geht um eine Wiederherstellung von Vertrauen der Basis in die Funktionäre und Amtsträger. Das ist der eigentliche Kern der Debatte auch in Bonn gewesen.

Doch auch inhaltlich gab es Kritik. Kühnert sagte: "Wenn wir in einer Kneipe wären, dann können wir sagen, die Union schreibt seit Jahren bei uns an. Die haben einen Zettel bei uns offen, der ist so lang." Die Befürworter der Koalitionsverhandlungen, allen voran die Mitglieder der Parteispitze, hoben ebenfalls auf die Sondierungen ab.

"Die SPD darf niemals den Eindruck erwecken, als ob sie sich vor dem Regieren fürchtete", sagte Vize-Parteichef und Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz. "Glaubt denn irgendjemand im Raum, wir würden es erreichen, wenn wir nicht mitregieren? Mich nervt es auch, dass das, was wir erreicht haben, kleingeredet wird", warf Fraktionsvize und Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ein.

Und Martin Schulz selbst schwang in seiner Rede vor allem die Europakeule. "Wir entscheiden heute letztlich auch darüber, welchen Weg unser Land und Europa gehen", sagte Schulz. Kurz vor der Abstimmung ergriff er noch einmal das Wort. Es sei ein Schlüsselmoment in der jüngeren Geschichte der Partei - Menschen in Deutschland und Europa schauten jetzt auf den Parteitag, so Schulz. "Jetzt ist der Augenblick der Entscheidung gekommen." Nach der Entscheidung kündigte Schulz an, auf seine Kritiker zuzugehen. "Wir sind natürlich alle erleichtert", sagt er dem TV-Sender Phoenix. "Wir werden nach dieser harten Diskussion versuchen, die Partei zusammenzuführen."

Das ist Martin Schulz, SPD-Kanzlerkandidat 2017
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Ob er in ein Kabinett unter Kanzlerin Angela Merkel eintreten wird, ließ er offen. "Die Personalfragen werden sicher am Ende diskutiert", sagte er in der ZDF-Sendung "Berlin direkt". Seine vordringliche Aufgabe als Parteichef sei jetzt erst einmal, seine Partei in eine neue Regierung zu führen.

(jd / kes)
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