Analyse Die Schlacht um Bonn ist verloren

gastbeitrag Der neue Vorstoß von Bundesministerin Barbara Hendricks, alle Ministerien von Bonn nach Berlin zu verlegen, löst Streit aus. Gastautor Ulrich Lüke meint: Faktisch wird das Land doch ohnehin aus Berlin regiert.

Am Anfang stand ein Irrtum: "Umzug ist Unfug", skandierten die Bonner Anfang der 90er Jahre, wohl ahnend, dass die gute Nachricht von der Einheit für sie eine negative Auswirkung haben würde. Noch im Sommer 1989 hatte Bonns Oberbürgermeister Hans Daniels Michail Gorbatschow zugerufen: "Gerade wir Bonner sind uns immer der Tatsache bewusst, dass unsere Stadt die Aufgabe der Hauptstadt nur stellvertretend für Berlin wahrnimmt." Manche Debatte der folgenden Jahre fiel dahinter weit zurück.

Gewiss, Bonn kämpfte nicht um den Titel der Bundeshauptstadt, wohl aber um den Sitz von Regierung und Parlament - und verlor. Der Bundestag zog nach Berlin, komplett und ganz, der eben erst fertiggestellte neue Plenarsaal blieb leer, und auch die Bundesregierung wanderte zu großen Teilen vom Rhein an die Spree.

Ein Paradoxon der Geschichte: Mehr als 40 Jahre lang hatte die kleine Stadt am Rhein als Bundeshauptstadt gedient: die ersten 20 Jahre davon bewusst provisorisch, die zweiten 20 Jahre den Hauptstadtauftrag bewusst annehmend und ausbauend. Auf dem Höhepunkt des Ausbaus war Schluss: Die Bundeshauptstadt mutierte zur "Bundesstadt".

Sie hat diesen Wandel beinahe perfekt hinbekommen - und blieb dennoch unzufrieden. 1994 beschloss der Bundestag ein Berlin-Bonn-Gesetz. Ein großzügiges Gesetz. Zweck war und ist die Sicherstellung "einer dauerhaften und fairen Arbeitsteilung" zwischen Berlin und Bonn. Ein vieldeutiger Begriff, denn so mancher Bonner sah darin die Chance, im Kleinen zurückzuholen, was im Großen eigentlich schon verloren war. "Arbeitsteilung" klang nach "halbe-halbe", und dieser Eindruck wurde noch unterstützt durch die Gesetzesformulierung, dass "insgesamt der größte Teil der Arbeitsplätze der Bundesministerien in der Bundesstadt Bonn erhalten" bleiben solle.

Das war weniger klar, als es viele Bonner lasen. Es war eben eine "Soll"-Vorschrift, und strittig war schon bald, was "der größte Teil" sein könnte. Mehr als die Hälfte der aktuellen Ministeriumsarbeitsplätze oder "nur" mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze im Jahre 1994? Noch weniger klar war die Entscheidung, welche Ministerien des Bundes denn nun in Bonn verbleiben würden. Das Gesetz regelt nur die Politikbereiche. Daraus abgeleitete Absprachen sicherten der Bundesstadt dann sechs "Erstsitze von Ministerien": Verteidigung, Ernährung, Entwicklung, Umwelt, Gesundheit, Bildung und Forschung.

Der Gedanke hinter den Politikbereichen: Bonn braucht ein neues Zukunftsmodell. Oder platter gesagt: Es geht nicht um Zahlen, sondern um Säulen. Dieser Gedanke drohte und droht jedoch in den immer wieder aufflackernden Umzugsdebatten verloren zu gehen. Akribisch wurde gezählt und gezählt, und heraus kam, was herauskommen musste: Immer mehr Ministerialbeamte wurden von Bonn abgezogen - "mehr als die Hälfte" am Rhein war schnell Fiktion. Aktueller Stand: 38 Prozent - wenn die Zahl denn stimmt.

Die Rückbesinnung auf die Säulen-Theorie steht jetzt an. Bundesbauministerin Barbara Hendricks hat als Bonn-Berlin-Beauftragte des Kabinetts die Fortentwicklung der Bonn-Berlin-Thematik angestoßen, als sie zur bisherigen Regelung sagte: "So wie es ist, kann und wird es nicht bleiben." Der Verbleib der Ministerien in Bonn sei nicht zwingend. Bonns künftiger Oberbürgermeister Ashok Sridharan unterstützt das Bemühen, das Verhältnis "neu auszutarieren". Ziel bleibt, was schon Ziel des Berlin-Bonn-Gesetzes war: eine dauerhafte Lösung.

Die Erfahrung der mehr als 15 Jahre seit dem Umzug hat gezeigt, dass nicht nur die Zahl der Arbeitsplätze nicht beibehalten wird, sondern dass auch die ersten Dienstsitze Fiktion sind. Da konnten die Bonner noch so oft "Wort halten" rufen. Alle Minister arbeiten in Berlin und lassen sich ab und zu in Bonn sehen. Mehr nicht. Das ist Realität, so wie der Fraktionszwang Realität ist - auch wenn beides zugleich ein Gesetzes- oder gar Verfassungsbruch ist. Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Jeder in Bonn weiß das: Die Truppen sind geschrumpft. Sehr geschrumpft. Oder wie es Anfang des Jahres die damalige nordrhein-westfälische Ministerin für Bundesangelegenheiten, Angelica Schwall-Düren, sagte: "Schlachten, die man schon verloren hat, sollte man nicht mehr zu schlagen versuchen."

Bonn braucht also einen Plan B. Nicht den Blick zurück, sondern den nach vorn. Nicht das Festklammern an Ministeriumsarbeitsplätzen und Dienstsitzen, sondern eine Idee. Die Idee von Bonn als einem internationalen und Entwicklungszentrum - mit den Vereinten Nationen im Fokus - und die Idee von Bonn als Stadt von Wissenschaft und Bildung. Drumherum müssen Ministerien und verstärkt Bundesbehörden gruppiert werden. Denn das ist auch ein Teil der Wahrheit: Weil die betreffenden Bundesministerien immer noch in Bonn ihren Sitz haben, befinden sich am Rhein auch viele "angedockte" Institutionen - Max-Planck-Institute, die Humboldt-Stiftung, der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Forschungsgemeinschaft. Das sind Tausende von Arbeitsplätzen.

Gelingt der Plan B, ist Bonns Zukunftsperspektive blendend, "Rutschbahn Berlin" hin oder her. Eine solch selbstbewusste und offensive Position entspricht der historischen Bedeutung der früheren Bundeshauptstadt auch viel eher als das Zählen von Dienstposten.

(RP)
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