Generation Erasmus

Sie waren in Europa in alle Himmelsrichtungen verstreut, sind ins Ausland gegangen, um internationale Freunde zu finden, neue Kulturen kennenzulernen, ihre Sprachkenntnisse zu erweitern. Sechs Studenten haben unterschiedliche Erfahrungen gemacht.

Von Beate Wyglenda.

Carolin Siebeck war für fünf Monate in Spanien. Die erste Vorlesung an der Universidad de Jaén in Spanien war für Caroline Siebeck ein kleiner Schock. Mehr als 2200 Kilometer von der Heimat entfernt, niemand Bekanntes zur Seite, und dann versteht man nicht alles. "Ich dachte, oh Gott", sagt die 22-Jährige und lacht. Drei Jahre lang hat Siebeck in der gymnasialen Oberstufe Spanisch gelernt. Bewusst wählte sie für ihr Erasmus-Semester ein kleines Dorf zwischen Granada und Córdoba in Andalusien aus, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. "Da dort aber fast alle Kurse auf Spanisch stattfinden, war das Studieren mit meinem Schulspanisch ein ganz schön ambitioniertes Projekt."
Aufgeben? Die Zeit absitzen? Das kam für die Düsseldorfer Jurastudentin
nicht in Frage. "Ich habe in den fünf Monaten unheimlich viel gelernt", erzählt Siebeck. Die Wiederholungen im Unterricht halfen ihr genauso wie ihre drei spanischen Mitbewohnerinnen Macarena, Sara und Laura, bei denen sie immer nachfragen konnte. "Auch wenn man den Erasmus-Aufenthalten nachsagt, dass man weniger die Landsleute als mehr die anderen Erasmus-Studenten kennenlernt, mit meinen drei Mädels habe ich echte Freunde gefunden." Am liebsten saßen die Damen mit einem "Tinto de Verano" auf dem Balkon, haben sich gegenseitig ihre Lieblingssongs vorgespielt, erzählt und gelacht. "Macarena hat gern Flamenco getanzt und die Lieder selbst gesungen", sagt Siebeck.
Zu allen drei Mitbewohnerinnen hat Siebeck mehr als ein Jahr nach ihrer Rückkehr noch immer Kontakt. Im August gibt es sogar ein deutsch-spanisches Wiedersehen mit Sara — diesmal aber in Düsseldorf. "Ich freu mich schon darauf, Sara nun mein Land zu zeigen", sagt die Jurastudentin, die zwischendurch schon einen Freund in Island besucht hat, den sie in Spanien kennengelernt hat.

Kathinka Engels war in Schottland. Bevor Kathinka Engels abends zu Bett geht, fällt ihr Blick immer noch einmal auf die Postkarte, die sich darüber befindet. Sie zeigt den von Rob Hain farbenfroh illustrierten Glenfinnan-Viadukt in Edinburgh. Die 380 Meter lange Eisenbahnbrücke ist nicht nur eine Sehenswürdigkeit in den Highlands, sie ist auch Schauplatz der Harry-Potter-Filme. "Das Bild vereint zwei meiner Leidenschaften", sagt Engels. "Harry Potter und die Landschaft Schottlands." Immer wenn die 25-Jährige die Karte ansieht, erinnert sie sich an ihr Jahr in Edinburgh.
2016 hat sie dort ihren Master in Film, Ausstellung und Kuration gemacht. "Ich liebe die Literatur, die Menschen dort und auch das gute Essen", erklärt sie. "Die Deutschen haben ja ihre Vorurteile, was die Küche betrifft. Aber ich habe in jedem Pub was Tolles gefunden." Die Postkarte überm Bett ist nicht das einzige Souvenir. Die Düsseldorferin lebte im Laufe ihres Studiums schon auf einem Olivenhain in Spanien, einer Milchfarm in Island und im englischen Winchester. Ihre Türen sind voll von Postkarten. Die Hälfte ihrer Facebook-Freunde kommt aus dem nicht deutschsprachigem Raum. "Erasmus ist eine tolle Möglichkeit, europaweit Freunde zu finden", sagt Engels.
Im April war eine Freundin aus Paris bei ihr zu Besuch. Auch in Edinburgh kam Engels ihr Netzwerk zugute. "Als ich kurz vor Semesterbeginn und mitten in der Festivalzeit erfolglos eine Wohnung in Edinburgh gesucht habe, half mir eine Freundin aus Düsseldorf aus", sagt sie. Diese hat nämlich bei ihrem Erasmus-Semester in Warschau einen Jungen aus der schottischen Hauptstadt kennengelernt. Bei ihm durfte Engels zeitweise einziehen. "Mir wäre es am liebsten, wenn es gar keine Grenzen mehr gibt", sagt die Absolventin.
In Schottland erfuhr sie sogar mehr über ihre eigene Heimat, als nach einer Highland-Wanderung im Bus plötzlich alle die 1. FC Köln-Hymne inbrünstig zu singen begannen. "Ich dachte, oh, ein Stück Zuhause", erzählt Engels. Nur der Text unterschied sich etwas. Der Höhner-Song hat seine Wurzeln in dem alten schottischen Lied "The Bonnie Banks o' Loch Lomond", das in den Pubs stets zur letzten Runde läuft. "Das war eine Überraschung — für alle", sagt Engels. "Ich habe aber trotzdem leise die kölsche Version gesungen."

Johannes Hemme war für ein halbes Jahr in der Tschechischen Republik. Spanien und Frankreich kannte Johannes Hemme bereits. Doch der Sozialwissenschaftsstudent wollte in seinem Erasmus-Semester ein Abenteuer wagen: Also ging es in den Osten, in die Tschechische Republik. Ein halbes Jahr lang lebte er in Prag. Um mehr über die Landesgeschichte zu erfahren, besuchte der 25-Jährige sogar Kurse. Doch erst in Prag lernte er: "Will ein Fremder die verschlossenen Tschechen kennenlernen, sollte er gut kickern und viel Bier trinken können."
In beiden Disziplinen konnte Hemme punkten. "Ich war jetzt kein blutiger Kicker-Anfänger, aber dort hab ich mich noch extrem gesteigert", sagt er. "In jeder Bar gibt es einen Tisch. Der Verlierer hat den Gewinner dann eingeladen." Meist auf ein Kozel, das Lieblingsbier der Studenten. Das kühle Dunkle vom Fass schmeckt malzig und süßlich, "ganz anders als in Deutschland".
Doch auch wenn keine Tschechen dabei waren, hatten die Erasmus-Studenten um Hemme Spaß. Die sechsköpfige Jungstruppe mit einem Dänen, Finnen, Franzosen, Engländer und zwei Deutschen ging zusammen zum Eishockey-Stadtderby Slavia Prag gegen Sparta Prag, zum Bluesabend in den hippen Club "Jazz Dock" auf der Moldau und sogar ins Nationaltheater, um Verdis Oper "Aida" zu sehen. "Das Kulturangebot in Prag ist enorm, und alles kostet nicht mehr als ein Appel und Ei", sagt Hemme.
Noch mehr vom Land lernte er durch die Ausflüge des Erasmus Student Networks (ESN) kennen, etwa als es zu einer Weinprobe nach Mähren ging. "Der Winzer konnte zwar kein Wort Englisch oder Deutsch sprechen", erzählt Hemmes. Dank dessen Spezialität, dem Eiswein, hatten sich trotzdem alle sehr gut verstanden. Seitdem engagiert sich Hemme selbst im ESN. "Ich wollte damit etwas zurückgeben. Die Angebote helfen ungemein, sich in einem fremden Land zurechtzufinden und Kontakte zu knüpfen", erklärt er. "Erasmus macht offener, aufgeschlossener, baut Vorurteile ab. Es ist gerade heute wichtig, sich zu Europa zu bekennen."

(RP)
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