Nikos Kotzias "Griechenland ist der Sündenbock"

Der Außenminister der Athener Links-rechts-Regierung vermisst die Solidarität der EU-Partner - sein Land sei wegen Euro- und Flüchtlingskrise einer beispiellosen Doppelbelastung ausgesetzt. Vor allem will er Hilfe bei der Grenzsicherung.

Düsseldorf Griechenland ist der Frontstaat in der Flüchtlingskrise - dort kommen täglich Tausende aus der Türkei an, die Zuflucht in Europa suchen. Täglich steigt deshalb auch der Druck auf die Links-rechts-Regierung in Athen, insbesondere auf Außenminister Nikos Kotzias (65). Dennoch nahm er sich zwischen einem Termin mit seinen Amtskollegen in Amsterdam und einem Besuch in Teheran eine Stunde Zeit für ein Gespräch.

Herr Minister, erst die Finanz-, jetzt die Flüchtlingskrise - trägt Griechenland die größte Last in Europa?

Kotzias Griechenland trägt in der Flüchtlingskrise eine große Last, die es nicht zu verantworten hat. Das haben wir mit Deutschland gemein. Beide Länder sind nicht schuld an den Flüchtlingsbewegungen, müssen aber am stärksten mit den Auswirkungen klarkommen. Deutschland ist das finanziell stärkste Land in Europa. Wir sind als Land an der EU-Außengrenze die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge.

Europäische Politiker, auch deutsche, werfen Griechenland vor, zu wenig zu tun, um die Flüchtlingszahlen zu senken.

Kotzias Einige versuchen, Griechenland den Schwarzen Peter zuzuschieben, weil sie innenpolitische Probleme haben. Sie versuchen, uns zum Sündenbock Europas zu machen. Das zeigt, wie sehr sich einige von den Grundwerten und Idealen Europas entfernt haben. Solidarität ist jetzt entscheidend, nicht Vorwürfe.

Die EU-Kommission droht mit dem Rauswurf Griechenlands aus dem Schengen-Raum.

Kotzias Niemand kann uns zwingen, aus dem Schengen-Raum auszutreten. Es stellt sich doch eine wesentliche Frage: Was bedeutet die Sicherung der Grenzen für ein Schengen-Mitglied, das keine Zugverbindung oder Autostrecke zu einem anderen Schengen-Land hat? Den Seeweg nach Italien kontrollieren wir hart. Die vierte Möglichkeit ist der Luftverkehr, über den Flüchtlinge einreisen können, auch an unseren Flughäfen gibt es aber regelmäßige Kontrollen. Fakt ist: Es gibt viel Aufregung, und man sucht einen Sündenbock für die Flüchtlingskrise. Wenn man genauer hinschaut, lösen sich viele Argumente in Luft auf.

Es geht vor allem um den Seeweg zwischen Griechenland und der Türkei. Wie viele Flüchtlinge kommen so täglich nach Europa?

Kotzias Die aktuellen Zahlen liegen bei etwa 2200 bis 2400 Flüchtlingen pro Tag.

Können Sie die Ägäis dichtmachen?

Kotzias Dichtmachen kann man keine Grenze der Welt. Selbst die USA schaffen es ja nicht, die Grenze zu Mexiko komplett abzuriegeln. Wir können die Zahlen aber reduzieren. Dazu brauchen wir allerdings die Hilfe Europas.

Was meinen Sie konkret?

Kotzias Wir haben schon vor Monaten die EU aufgefordert, uns 2000 Beamte der Grenzschutzagentur Frontex und 100 Boote zu schicken, es kamen bislang nur 800 Beamte. Einige Mitgliedsländer sind offenbar nicht gewillt, das Problem schnell anzugehen. Außerdem haben wir im EU-Rat mehrfach betont, dass die Grenzschützer direkt an den griechischen Inseln eingesetzt werden müssen, um die Flüchtlinge sofort zurück in die Türkei zu schicken und sie von dort zu verteilen. Aber das war politisch offenbar nicht gewollt. Sicherheitspolitisch wäre es die logische Entscheidung.

Die EU will die Grenze Mazedoniens schließen. Bleibt am Ende Griechenland mit den Flüchtlingen allein?

Kotzias Wir erleben eine Fragmentierung Europas, eine Entsolidarisierung. Gerade die Länder an der sogenannten Balkan-Route wie Tschechien, die Slowakei, aber auch Polen nehmen gar keine Flüchtlinge auf. Sie beteiligen sich nicht an einer europäischen Lösung. Sie tendieren dazu, Europa zu fragmentieren. Das ist nicht das Europa, das wir alle versprochen haben. Als ich vor einem Jahr im Europäischen Rat gesagt habe, dass die Gelder für die UN-Flüchtlingshilfe nicht gekürzt werden sollten und Europa dringend die Camps im Libanon und in Jordanien unterstützen müsse, wurde ich beschimpft. Niemand wollte sich mit dem Thema auseinandersetzen. Dass Tausende Nordafrikaner für 50 Euro per Direktflug nach Istanbul gekommen sind, um von dort für zehn oder 20 Euro an die türkische Küste zu gelangen, ist seit Monaten bekannt. Getan hat sich nichts.

Was muss jetzt passieren?

Kotzias Europa muss alles tun, um eine Entspannung im Syrien-Konflikt zu erreichen. Das ist die zentrale Ursache für die Migration. Außerdem brauchen wir ein stärkeres Engagement der Türkei, damit weniger Flüchtlinge die tödliche Überfahrt über das Ägäische Meer riskieren. Und Griechenland braucht Hilfe beim Grenzschutz. Wissen Sie, es gibt einige Inseln, da sind zeitweise 20 Mal so viele Flüchtlinge wie Einwohner. Wir tun, was wir können. Ich bin stolz auf unsere Leute. Wir helfen den Flüchtlingen trotz unserer schwierigen finanziellen Lage, und es gibt keine fremdenfeindliche Stimmung.

Die Türkei erhält drei Milliarden Euro für Maßnahmen zur Absenkung der Flüchtlingszahlen. Fühlen Sie sich ungerecht behandelt?

Kotzias Nein, es geht schlicht um eine grundlegende Solidarität mit einem Mitgliedsland, das besonders von der Flüchtlingskrise betroffen ist. Wir kürzen Renten für unsere Bürger und geben zugleich Milliarden für Flüchtlinge aus. Eine solche Doppelbelastung hat kein anderes Land. Wenn wir aber die Reformen in diesem Land umsetzen, wie von den Geldgebern verlangt, brauchen wir die verabredeten finanziellen Erleichterungen bei der Rückzahlung der Kredite.

Die Regierung Tsipras ist ein Jahr im Amt, und schon wieder demonstrieren Tausende gegen die Regierungspolitik. Ist Griechenland unreformierbar?

Kotzias Nein, das ist Demokratie, und es zeigt, dass die Bevölkerung die von den Geldgebern uns aufgezwungenen Maßnahmen ablehnt. Das ist ihr gutes Recht. Wir werden die Reformen umsetzen, auch wenn wir sie für ökonomisch falsch halten. Wir werden trotzdem aus der Krise herauskommen und wieder ein ökonomisch starkes Land werden. Ich frage mich aber, ob alle in Europa daran ein Interesse haben, dass Griechenland wieder auf die Beine kommt.

Klingt nach Verschwörungstheorie.

Kotzias Das ist nur eine Frage. Europa ist ohne Griechenland nicht vorstellbar. Und Griechenland ohne Europa auch nicht. Die griechische Mythologie besagt: Zeus hat die schönste Frau der Welt gesucht und sie übrigens in Libyen gefunden. Er hat sie nach Kreta entführt, sich ihr in seiner göttlichen Gestalt zu erkennen gegeben und ihr drei Kinder geschenkt. Diese Frau hieß Europa.

MICHAEL BRÖCKER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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